1. Dez 2019
1.Advent-Sonntag
Besonderheiten des Matthäus-Evangeliums
Mit erstem Adventsonntag beginnt das neue Kirchenjahr und damit gleichzeitig das Lesejahr A, nämlich nach Matthäus. Statt auf das vorgesehen Sonntagsevangelium einzugehen, soll uns diesmal das Matthäus-Lehrbuch als Ganzes vorgestellt werden. Ursprünglich hatte es keinen Namen, erst zu Beginn des 2.Jahrhunderts wurde es dem Apostel Levi/Matthäus zugewiesen. Der Kirchenschriftsteller Papias (+ 120/130 n.Chr.) behauptet, der Apostel hätte es ursprünglich in Hebräisch oder Aramäisch abgefasst. Dies ist aber nicht glaubwürdig, denn dann hätte er nicht das Markus-Evangelium als Vorlage verwendet. Eher könnte noch zutreffen, dass der Jesus-Begleiter Levi von den Lehrgeschichten Jesus noch zu dessen Lebzeiten so beeindruckt war, dass er einiges sehr zeitnah notiert hat und dass auf diese Weise eine ganz frühe Redesammlung Jesu entstanden ist, aus der dann die Spruchquelle Q geworden ist. Deren Erstfassung könnte im Raum Palästina in aramäischer Sprache abgefasst worden sein.
Lassen wir die Berufung des Levi auf uns wirken wie sie Markus überliefert: Jesus ging wieder hinaus aus der Stadt Kafarnaum und machte einen bewussten Ortswechsel an den See. Da kamen Scharen von Menschen zu ihm, angezogen von seiner Art, wie er Lebensempfehlungen gab. Er lehrte Lebensricht-linien, die überzeugend klagen und den Anreiz hatten, sie anzuwenden. Jesus ging immer ein Stück weiter, dabei beobachtete er, welche Leute besonders an seinen Lippen hingen. Der Zollein-treiber Levi fiel ihm auf. Er saß zwar unverrückbar an seiner Kontrollstelle und schien über seine Steuerlisten zu brüten. Bei aller äußerlichen Distanz bemerkte Jesus doch eine innere Nähe und eine versteckte Aufmerksamkeit dieses Mannes für seine Lehren. So nützte der die Gelegenheit, ihn aufzu-fordern: „Tritt in meinen Schülerkreis ein und schließ dich mir an!“ Er meinte damit, er solle ihm wie einem Wanderlehrer folgen. „Höre noch mehr von meinen Lehrvorträgen und werde ein Lernender!“ Mehr brauchte dieser Fernstehende nicht. Die Aufforde-rung Jesu entsprach dessen heimlicher Sehnsucht. Er verabschiedete sich von seiner Zollkassa und wurde zu einem ständigen Begleiter Jesu. (Siehe Mk 2,13f)
Orthodoxe Juden lesen aus den Schriften am Platz vor der Klagemauer:
Über allen Schriften und religiösen Traditionen steht die Barmherzigkeit. Dafür braucht es keinen heiligen Ort, keine rituelle Handlung, keine Gesetze.
Die Berufungen der einzelnen Jesus-Schüler waren höchst unterschiedlich. Hier sehen wir einen, den vor allem die Lehre ansprach, einen, der selber einen hohen Bildungsgrad hatte und der des Schreibens mächtig war. Vielleicht blieb dies zeitlebens sein Merkmal und seine Mission: Die Lehren Jesu schriftlich festhalten. Dieser Begabung verdanken wir möglicherweise die erste Redesammlung Jesu, die viel ursprüngliche Echtheit enthält. Damit sind wir bei jenem Teil des Matthäus-Evangeliums, das nicht das Markus-Evangelium als Vorlage verwendet hat. Der Apostel Matthäus/Levi war nicht der Verfasser des Matthäus-Evangeliums, aber er war es vielleicht, der den Grundstein dafür legte.
Der tatsächliche Verfasser des Matthäus-Evangeliums ging in den 80er Jahren ans Werk und schöpfte eben aus diesen zwei Hauptquellen : Markus und Logienquelle. Er war ein religiöser Gelehrter und Schriftsteller, der tief im Judentum verwurzelt war, im syrischen Raum wirkte und offen war für die Völkerwelt. Ein Satz aus der Mitte seines Werkes könnte ihn selber darstellen: „Deswegen gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt.“ (Mt 13,52) Wenn er das selber ist, könnten wir sagen: Der Evangelist war ursprünglich ein jüdischer Bibelgelehrter, der buchstabengenau Bescheid wusste, was in der Tora, dem fünfteiligen Hauptbuch der jüdischen Religion steht. Er fand durch glückliche Umstande zur Lehre Jesu. Das hatte zur Folge, dass er als vorher glaubensmäßig „Wissender“ nun zu einem „Lernenden“ (=Jünger) wurde. Er war Hausbesitzer und als Hausherr stellte er seinen privaten Wohnsitz für einen Hauskreis zur Verfügung, sodass es wieder einen mehr gab im Gemeindeverband seiner Stadt. Die Stadt könnte Antiochia in Syrien gewesen sein. Er teilte seine Lernfortschritte laufend mit seinen Gemeindemitgliedern. Die geschwisterlich achtsame Atmosphäre, die er und die übrigen in der Runde Woche für Woche bei den Treffen erlebten, nannten sie „die Herrschaftsordnung Gottes, das Reich Gottes“ – der Verfasser des Matthäus-Evan-geliums nennt sie lieber „Reich der Himmel“, weil er den Namen Gottes aus Hochachtung nicht leichtfertig in den Mund nehmen will.
Nach seiner Auffassung kommt man nicht so einfach in diese Gemeinschaft, die den Himmel abbildet in der weltlichen Gesellschaft: Bei Matthäus finden sich im Gesamtwerk verteilt, fünf Einlasssprüche: 1. „Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit (=die Bereitschaft, den Plan Gottes umzusetzen) nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 5,20) 2. „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt.“ (Mt 7,21) 3. „Amen, das sage ich euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 18,3) 4. „Da sagte Jesus zu seinen Jüngern: Amen, das sage ich euch: Ein Reicher wird nur schwer in das Himmelreich kommen.“ (Mt 19:23) 5. „Wer von den beiden hat den Willen seines Vaters erfüllt? Sie antworteten: Der zweite. Da sagte Jesus zu ihnen: Amen, das sage ich euch: Zöllner und Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr.“ (Mt 21,31)
Seine Treue zur jüdischen Heiligen Schrift ist auf Schritt und Tritt zu merken. Bei allen möglichen Gelegenheiten liefert er ein Bibelzitat, weit mehr als die anderen Evangelisten. Er baut 5 große Lehrblöcke ein – entsprechend den 5 Büchern Mose – verteilt über sein gesamtes Werk. Damit die Leser diese 5 Blöcke erkennen, schließt er jeden mit fast dem gleichen Marker ab: 1. Die Lehre am Berg über die Seligpreisungen und mit der Neuinterpretation der alten jüdischen Gesetze: Mt 5 – 7 „Und es geschah, als Jesus die Rede beendet hatte, war die Menge voll Staunen über seine Lehre, denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten.“ (Mt 7,28 f) 2. Lehre für den Schülerkreis und ihre Ermutigung Mt 10 „Und es geschah, als Jesus die Unterweisung der zwölf Jünger beendet hatte, zog er weiter, um in Städten zu lehren und zu verkünden.“ (Mt 11,1) 3. Sammlung der anschaulichen Geschichten (=Gleichnisse) Mt 13. „Als Jesus diese Gleichnisse beendet hatte, zog er weiter." (Mt 13,53) 4. Gemeindeleben: Rangordnung, Missbrauch, Vergebung und Zurechtweisung. Mt 18 „Als Jesus diese Reden beendet hatte, verließ er Galiläa und zog in das Gebiet von Judäa jenseits des Jordan.“ (Mt 19,1) 5. Die Endzeit-Not und wie die Völker anhand des Menschensohnes gerichtet werden. Mt 23-25 „Als Jesus seine Reden beendet hatte, sagte er zu seinen Jüngern: Ihr wisst, dass in zwei Tagen das Paschafest beginnt; da wird der Menschensohn ausgeliefert“ (Mt 26,1)
Matthäus erlebte in seinem Gemeindeverband, dass sich Leute anmaßten, als Lehrer aufzutreten und dabei zu behaupten, das jüdische Gesetz sei seit Jesus hinfällig: Dem entgegnet Matthäus sehr entschieden, indem er Jesus sagen lässt: „Wer auch nur eines von den kleinen Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich.“ (Mt 5,19) Wer Paulus kennt, wird wissen, dass er mit derselben Entschiedenheit auftritt gegen das starre Festhalten an „in Stein gemeißeltes Gesetz“. Er ist überzeugt: „Der Buchstabe tötet. Der Geist aber macht lebendig." (2Kor 3,6) Sich am Gesetz festzuklammern, führt zur Verhärtung. „Wo aber der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.“ (2 Kor 3,17) Wer von beiden gibt nun die Gesinnung Jesus zutreffend wieder? Matthäus oder Paulus?
Es zeigt sich, dass in der frühen Kirche die Lehrmeinungen nicht deckungsgleich waren, sondern stellenweise voneinander abwichen. Wie könnte die Lösung der Widersprüche aussehen? Matthäus schreibt mehrere Lösungsvorschläge: Einer davon sei hier abschließend genannt: Über den religiösen Gesetzen steht die Barmherzigkeit.
„Darum seid Lernende in dem alten Prophetenwort: Gott will Barmherzigkeit, nicht Opferhandlungen. Macht selber Erfahrungen damit, was das heißt: jemandem aus der Not helfen – vielleicht sogar aus der selbst verschuldeten Not. Eher so etwas tun, als eine Gabe auf den Opferaltar legen. Das erste gefällt Gott mehr. Mein Kommen hatte nicht den Anlass, dass ich die heran rufe, die sowieso dem Plan Gottes entsprechen, sondern ich habe den Auftrag, die heran zu rufen, die sich an der guten Ordnung Gottes vergangen haben.“ (Mt 9,13) „Wenn ihr doch das begriffen hättet: Es gibt etwas Größeres als das Besuchen des Gotteshauses und das Opfern dort. Es ist die Barmherzigkeit“. (Siehe Mt 12,8)