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11.Juni 2023      10.Sonntag im Jahreskreis

Er blieb nicht länger sitzen

Matthäus 9,9-13

Als Jesus weiterging, sah er einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Und Matthäus stand auf und folgte ihm nach. Und als Jesus in seinem Haus bei Tisch war, siehe, viele Zöllner und Sünder kamen und aßen zusammen mit ihm und seinen Jüngern. Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? Er hörte es und sagte: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer! Denn ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder.

Diese Berufungs-Szene hat eigentlich einen Vorspann, den uns nur das Markus-Evangelium mitliefert: „Jesus ging wieder hinaus an den See. Da kamen Scharen von Menschen zu ihm und er lehrte sie“ (Mk 2,13) Die beiden anderen Evangelisten lassen diese Sätze weg. Sie scheinen nicht erkannt zu haben, dass sie wichtig sind zum Verständnis der ganzen Berufungsgeschichte des Matthäus, von dem übrigens Markus und Lukas wissen, dass er „Levi“ hieß. Warum ist es wichtig, den Vorspann zu kennen? Weil er uns Hinweise dafür liefert, was der Anlass für die Berufung des Zolleintreibers Levi war.

Wir heutige flüchtige Bibelleser beachten  zu wenig, dass jeder Jünger, jede Jüngerin ganz unterschiedlich berufen wurden – so wie es seiner Vorgeschichte, seiner Neigung und seiner Persönlichkeit entsprach. Sein Bildungsstand, seine Fähigkeiten, seine Besitzverhältnisse spielten mit herein. Ebenso unterschiedlich konnte sich auch jeder dann einbringen. Levi war ein wohlhabender Mann, anders als etwa die erstberufenen Fischer. Er war es gewohnt, über seine Einnahmen genau Buch zu führen. Er war gebildet und fühlte sich durch die Lehrveranstaltung Jesu beeindruckt. Für ihn war es schlüssig, was Jesus  vortrug. Er horchte außergewöhnlich aufmerksam zu, obwohl er nicht zu den „Scharen von Menschen“ gehörte, sich nicht unter sie mischte. Er saß abseits und wollte nicht den Eindruck erwecken, dass er wie die Massen hinter Jesus her lief. Aus der Entfernung beobachtete er, wie Jesus das Volk aufklärte durch wichtige Impulse und ermunterte, ihr Leben in die Hand zu nehmen.

Jesus muss durch seine unauffälligen Blicke in der Runde das lebhafte Interesse des „Mannes im Abseits“ gemerkt haben. So nützte er die Gelegenheit, den Mann gleich nach der Lehrveranstaltung anzusprechen.

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Die riesige Spinne hat in ihren Netz einen dicken Käfer gefangen und eingewickelt. Sektenführer machen es ähnlich, nicht so Jesus. Seine Berufung ist Befreiung zu sich selbst, ist Anfang einer großartigen Entwicklung.

Dabei griff er gleich etwas auf, was in Ansätzen da war in der Person. Das machte Jesus bei allen Berufenen so:Die überlieferten Beispiele von Berufungen belegen es: So wurden Simon und Andreas beim Fischen angesprochen. Wie sie bisher Fische an Land gezogen hatten, so würden sie künftig Menschen an Land retten. Johannes, der Jünger, der Jesus emotional sehr nahe stand, erinnerte sich zeitlebens genau an die Tageszeit der Erstbegegnung: „Es war um die zehnter Stunde (= 16 Uhr). Natanael war verblüfft, dass ihm Jesus hinsagte: „Ich habe dich unter dem Feigenbaum gesehen“, was soviel hieß wie: Ich schätze an dir, dass du dich zurückziehen kannst, dass du unter dem Laubdach liest und dich vertiefst und betest. Die selbstsicher wirkende Frau Maria aus Magdalena konnte Jesus für sich gewinnen, indem er mit ihr seelische Nöte aufarbeitete, die vermutlich von der Männerwelt herrührten. Sie erwies sich später sehr dankbar dafür, wurde seine Schülerin und stellte ihm ihr Vermögen zur Verfügung.

 

So war es auch bei Levi / Matthäus. Der erste Anknüpfungspunkt beim Meister war seine Lehre und er zeigte in den drei Jahren der Jesus-Schule gerade dafür lebhaftes Interesse. Er saugte jedes Wort seines Lehrers auf und versuchte sich die Unterrichtseinheiten wortgetreu einzuprägen. Es kann durchaus sein, dass er teilweise mitgeschrieben hat. Vielleicht war er es, der die früheste Redesammlung Jesu angelegt hat. Vielleicht wurden sie in den ersten Jahrzehnten in den Hauskreisen hoch geschätzt und gerne verwendet. Bis heute erhalten sind diese „Mitschriften“ nicht, aber es könnte sein, dass sie dem 50 Jahre später in Syrien lebenden Evangelisten Matthäus vorgelegen sind. Der von Jesus berufene Levi/Matthäus und der Evangelist Matthäus sind sicher nicht der selbe, aber in dem Evangelium hört man am ehesten Jesus noch „im Originalton“. Die moderne Bibelforschung hat jedenfalls nachgewiesen, dass es eine sehr frühe Redesammlung Jesu gegeben haben muss und die Wissenschaft hat sie rekonstruiert und ihr den Titel verliehen: Logienquelle Q.

 

Außer mit der Lehre Jesu ist die Levi-Berufung noch mit einem zweiten Merkmal verknüpft: einem zweifelhaften Festessen. Der Evangelist schreibt: „Und es ergab sich“: Es lag Jesus in dessen Haus bei Tisch. Er war also nicht einfach zum Essen eingeladen, sondern es muss eine gehobene Atmosphäre gewesen sein, wo man bei Tisch auf Polstern lag. Außenstehende Beobachter sahen darin ein Trinkgelage, was auch dem Ruf eines Zöllners entsprach, eines Mannes, der  sich in der Finanzwelt einen satten Wohlstand verschafft hatte. viele Übersetzungen schreiben: „Sie aßen zusammen“, aber der Original-Text betont, dass sie „zusammen lagen“, also durchmischt, die Anständigen mischten sich unter die Verrufenen. Dass sie gemeinsam aßen ist klar, aber sie hätten getrennte Essrunden bilden können, damit die Reinen nicht reden mussten mit den Unsauberen. Eine Absonderung der Guten von den Schlechten wäre für religiös ernst zu Nehmende eine Mindestforderung,  statt einer Durchmischung. Das empörte die Hüter der sauberen Religiosität. Sie stellten aber nicht Jesus selbst zur Rede, sondern bezeichnenderweise seinen Schülerkreis: „Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen?“ So einer soll euer Meister sein? Von dem wollt ihr lernen? Nicht einmal eines der obersten Gebote hält er ein – die Reinheit. Religion legt Wert auf Reinheit.  Damit trieben sie einen Keil zwischen Jesus und seine Schüler, die sowieso erst in der ersten Lernphase bei ihm steckten.

 

Wie hätte Jesus darauf reagieren können? Auf Gegenangriff gehen? Ihre infame Art aufdecken? Vor ihnen warnen? Nein, er betreibt Aufklärung: „Nicht die Gesunden haben Bedarf nach einem Arztes, sondern diejenigen, denen es schlecht geht, die ganzheitlich schlecht dran sind. Denn ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“ Mit den beiden Sätzen erweist sich Jesus als Meister des Redens und der Weisheit: Er gibt den Gegnern eine Erklärung. Sie können zur Einsicht kommen, wenn sie bereit sind dazu. Er gibt den Schülern eine Lehreinheit über sein Grundanliegen. Er gibt den Angeschuldigten das Gefühl, dass er sie anders sieht als die Strengreligiösen:  Jesus nennt die Leute, die in schlechtem Ruf stehen nicht böse. Er verschweigt aber auch nicht, dass sie sich einiges zu Schulden kommen haben lassen. Den Strengreligiösen gesteht er sogar zu, dass sie „Gerechte“ sind. Sie nehmen sich  sowieso laufend vor, dass sie dem „gerecht werden“, was Gott will, was seine Gebote sind. Jesus sieht sich selber eher als Arzt denn als Hüter der Gebote.

 

„Geht und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!“  Der Satz ist nicht mehr Original-Ton Jesu, er stammt aus der Feder des Matthäus, ganz typisch. Der war ursprünglich jüdischer Schriftgelehrter, bevor er Schüler des Evangeliums geworden ist. Er baut in sein literarisches Werk bei jeder möglichen Gelegenheit Worte aus der jüdischen Heiligen Schrift ein, also aus dem Alten Testament. In dem Fall zitiert er aus dem Propheten Hosea (Hos 6,6) Er war früher theologisch ein Wissender und ist durch die Jesus-Bewegung zu einem Lernenden geworden. Das war immer noch möglich, obwohl das Leben Jesu schon 50 Jahre zurück lag. Matthäus schreibt etwa 80 n.Chr. Somit ist auch der Abstand von 2023 in die Jahre Jesu kein Hindernis, auf ihn genau hin zu schauen und hin zu hören. Was könnte uns heute die Schilderung sagen? Berufung erfolgt sehr unterschiedlich – auf jeden einzelnen zugeschnitten. Berufen sind viele, aber nur wenige ergreifen die Auserwählung. Viele lassen die Anfangsbegeisterung verkommen. Sie frischen nicht von Zeit zu Zeit auf, was es war, das sie damals so angesprochen hat. Wer der Berufung jedoch treu bleibt, wer die ausbaut und festigt, wird erleben, dass er mit immer neuen Berufenen zusammen geführt wird, mit Neuen speisen darf und dadurch der Kreis wächst und wächst.

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