15. Sept 2019
24.Sonntag im Jkr
Auf Fernstehende zugehen
Lukas 15, 1 - 7
Es ist erstaunlich, dass ein geistlicher Lehrer (Jesus war ein solcher!) bei religiös Fernstehenden offene Ohren findet. Es sind Leute, die aus der Finanzwelt kommen, die viel Geld anhäufen und die im Ruf stehen, dass sie sich um moralische Werten nicht immer kümmern. Nur wenige geistliche Lehrer gibt es in unseren Tagen, die von der erfolgsgetriebenen Geldwelt eingeladen werden, um dort Vorträge zu halten – aber es gibt sie. Leute, die nie bei Gottesdiensten anwesend sind, zeigen ernsthaftes Interesse an Referaten über Menschlichkeit, über rücksichtsvollen Umgang miteinander, über Beziehungsfähigkeit, ja sogar über Glauben. Sie kommen zu den Lehrveranstaltungen nicht aus Verpflichtung, nicht aus Scheinheiligkeit, nein sie kommen aus echtem Bedürfnis. Wieso wollen die etwas Fundiertes hören über den Lebensstil der Achtsamkeit? Das ist doch erstaunlich – und erfreulich. Vielleicht haben sie einen Nachholbedarf, vielleicht tun ihnen diese Themen gut. So manche religiöse Insider sind den Außenseitern gegenüber misstrauisch. Es sind die besonders „Gläubigen“, die sich daran stoßen. Sie erachten sich als die Anständigen, die regelmäßig im Gotteshaus auftauchen, sie gehen auf Distanz zu „gewissen Personen“. Für sie gelten Religion und die religiösen Gepflogenheiten als eine Selbstverständlichkeit. Manche Vertreter der gebildeten Elite in der Religion stoßen sich ebenso an den weit geöffneten Toren. Sie haben ein jahrelanges Studium der Glaubens-themen und der "heiligen Ordnun"g hinter sich. Ihre Bücherregale sind voll mit frommer Literatur. Sie halten es für unangemessen, dass der neue „Ausleger der Weisheit und der Moral“ gar so offen ist für Fernstehende, offen für weite Kreise. Für noch schlimmer halten sie es, dass er sich dort zu Feierlichkeiten einladen lässt. Er zeigt dort keine mahnende ernste Miene, sondern wirkt gut gelaunt an der Tafel, er stößt sogar auf Bruder-schaft an.
Ein Hirte bei Betlehem: Er geht der Herde voraus, aber nicht ständig.
Die Einwände der religiös Etablierten lauten: „Wo kommen wir hin, wenn man denen Tür und Tor öffnet, die sich ganz eindeutig etwas zu Schulden kommen haben lassen. Eher gehört das angeprangert. Solche müssen abgewiesen werden. Höchstens wenn sie reumütig ihre Schuld eingestehen, können wir eine Annäherung ins Auge fassen. Schließlich ist Religion eine Ansammlung von sauberen und anständigen Menschen.“
Jesus ist anderer Meinung. Er seinerseits grenzt sich vor keinem ab, von denen nicht, die einiges am Kerbholz haben, aber auch von den Hütern der Reinheits-Religion nicht. Denen, die auf Abwege geraten sind, geht er nach und um die Hart-Gläubigen wirbt er. Er tut alles, um sie in ihrer unbeugsamen Gesinnung aufzuweichen. So trägt er eine anschauliche Lehrgeschichte vor, die gleichzeitig ein Appell ist: „Wenn einer von euch 100 Schafe hat …“ Schon mit dem ersten Satz setzt er auf ihren landwirtschaftlichen Hausverstand.
Von Zeit zu Zeit ist es nötig, dss er zurück schaut, ob nicht jemand verloren gegangen ist.
Wir heutigen Zeitgenossen fühlen uns nicht mehr unmittelbar angesprochen, denn wir haben keine Schafe, aber 1 oder 2 Autos und 100 technische Geräte. Eines können wir bei der Erzählung sicher sein: Das Geschriebene entstammt nicht dem schriftstellerischen Ehrgeiz des Lukas, der ja ein römischer Städter ist, sondern sie stammt aus dem Mund Jesu, der am Land spricht. Die Erzählung ist Evangeliums-Urgestein, zu Hörern gesprochen, denen Hirten und Schafherden vertraut sind. Außerdem hat die Erzählung eine stark freudige, positive Grundlinie, mehr als die Ergänzungen, die von Lukas stammen (wie wir gerade letzten Sonntag beobachten konnten). Wir lassen uns also auf die Bildgeschichte ein, auch wenn wir nicht mehr aus dem agrarischen Zeitalter stammen. „... und wenn er eines von den 100 Schafen verliert, lässt er dann nicht 99 im Weideland zurück? Er lässt sie vorübergehend ohne Betreuung zurück, also auf sich selbst gestellt. Die 99 brauchen sich nicht zu beschweren, denn sie sind unter sich und haben den Schutz der Gemeinschaft. Das hat das verlorene Mitglied nicht. Er muss dem Verlorenen nachgehen. Der Hirte (der Seelsorger, der Pädagoge, …) hat nämlich Schutzpflichten für einzelne übernommen, nicht nur Betreuungsaufgaben für die Menge. Er ist seinem Vorgesetzten gegenüber verantwortlich für die Herde als ganze und für jedes einzelne Mitglied. Der Herr wird eines Tages Rechenschaft verlangen über die Vollzähligkeit der Herde. Er wird sich beschweren, wenn auch nur eines verloren gegangen ist. Er wird kein Wort verlieren über die brav beisammen Gebliebenen. Wenn der Hirte schon nicht aus Mitleid um den Verlorenen sich auf die Suche macht, dann doch aus Pflichtbewusstsein oder aus Angst vor dem Besitzer, der ihm die Herde immerhin anvertraut hat. So wird der Hirte alles Mögliche versuchen, um dem Verlorenen auf die Spur zu kommen. Appelle aus der Ferne werden nichts nützen, er muss nachgehen. Er muss sich dorthin begeben, wo der Arme feststeckt. Das kann unter Umständen bedeuten, dass der Hirte selbst ausgesetzte Wege in Kauf nehmen muss. Wenn er den Schlingel nach Stunden endlich gefunden hat, wird er ihn nicht schlagen aus Strafe. Nein, im Gegenteil, er wird jauchzen und freudig rufen: >Na, da bist du ja. Wie froh bin ich, dass ich dich finden und erreichen konnte<. Der Hirte wird dem Schaf, das schon lange geschrien hat, ohne gehört zu werden, mehr körperliche Nähe spüren lassen als all den anderen. Er nimmt es auf die Schultern. Wenn er Zuhause angelangt ist, wird der Hirte das starke Bedürfnis haben, anderen Leuten von dem Abenteuer zu erzählen. Er wird Freunde und Nachbarn verständigen und sie zum Freudentrunk am Lagerfeuer einladen." Jesus sagt als Schlusssatz seiner Lehrgeschichte: „Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war,“ Dabei scheint er selber aus der Hirtengeschichte heraus zu treten und einen Blick in die Runde zu werfen. Er scheint an die besonders Religiösen zu appellieren: „Verwandelt eure finsteren Mienen in Freudengesichter!“
Jetzt setzt Lukas mit seiner Feder noch ein Tüpfchen dazu: „Ebenso wird im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte, die keine Umkehr nötig haben.“ Warum ist hier die Handschrift des Lukas erkennbar? Es ist ein Gedankensprung festzustellen: In der Geschichte ist der Hirte dem Schaf nachgegangen und ER hat es gefunden – das ist SEIN Verdienst. Im Lukas-Anhang geht es um das selbst entschlossene Umkehren dessen, der sich auf Abwege begeben hat. Wenn wir Lukas bitten würden, er möge uns "Himmel" in die heutige Sprache übersetzen, würde er vielleicht sagen: Himmel ist die Modell-Welt, die Ideal-Welt. Sie ist unserer Welt voraus, aber Anreiz für uns. Wir können in Ansätzen auch dorthin gelangen. Dort geschieht das bereits, was sich allmählich auch bei uns durchsetzen soll. In der Wirtschaft ist es auch so: Zuerst wird eine neue Sache unter Labor-Bedingungen erprobt und dann wird die Errungenschaft serienmßig hergestellt und großflächig verbreitet. Wenn also im Himmel Freude herrscht über jemand, der zur Einsicht kommt und einen erfreulichen guten Weg einschlägt, dann sollte sich diese Freude nach und nach auch auf der Erde als seelsorgliche Leitlinie durchsetzen.