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7.Jän. 2024      Taufe des Herrn

Taufe als Neubeginn

Mk 1,7-11

Johannes verkündete: Nach mir kommt einer, der ist stärker als ich, ich bin es nicht wert, mich zu bücken, um ihm die Riemen der Sandalen zu lösen.  Ich habe euch mit Wasser getauft,  er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen.

Es geschah in jenen Tagen, da kam Jesus aus Nazaret in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen.  Und sogleich als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass der Himmel aufriss und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.

Die Kirche begeht das Fest „Taufe des Herrn“ immer zu Jahresbeginn. Möglicherweise hat die Tradition hier sogar die richtige Jahreszeit aufbewahrt, in der sich die Taufe tatsächlich zugetragen hat. Jesus könnte wirklich Anfang des Jahres 27 n.Chr. (nach unserer Zeitrechnung) aus seinem Heimatdorf Nazaret in Galiläa aufgebrochen sein und die 130 km im Jordantal bis fast bis zum Toten Meer gewandert sein, wo Johannes seine Taufstelle eingerichtet hatte. Es kann kalt sein zwischen Jänner bis März in Jerusalem und Betlehem, alle 10 bis 20 Jahre fällt sogar ein wenig Schnee. Diese feuchte Kälte ist besonders unangenehm. In Galiläa, am See Genesaret und im Jordangraben ist es zwar milder, aber doch häufig bewölkt und regnerisch. Jericho ist von der nassen Kälte verschont, sodass sich Herodes dort seine Winterresidenz errichtete. Im Toten Meer kann man baden im Winter.

Woher wissen wir, dass Jesus gerade diese Jahreszeit gewählt hat, um zur Taufstelle des Johannes zu pilgern? Die Evangelien halten es nicht für nötig, den Zeitpunkt zu nennen. Er lässt sich aber erschließen. Nach der Taufe und dem sechswöchigen Wüstenaufenthalt kehrte Jesus heim nach Galiläa und begann seinen Schülerkreis um sich zu sammeln. Gemeinsam mit den ersten sechs war er zur Hochzeit von Kana eingeladen. Bald darauf zog er mit ihnen zum großen Frühlings-Pilgerfest, dem Pascha-Fest nach Jerusalem. Das findet immer Ende März/ Anfang April statt. Diese zeitliche Abfolge berichtet nur das Johannes-Evangelium. Es erweist sich oft erstaunlich zuverlässig in Orts- und Zeitangaben.

 

Was könnte der Grund gewesen sein, dass sich Jesus auf die Pilgerschaft zu Johannes dem Täufer begab? Auch darüber verraten die Evangelien nichts. Jesus hob sich ab von der Mehrheit der Johannes-Pilger. Sie kamen aus der Südprovinz und der Hauptstadt Jerusalem, während Galiläa weit im Norden liegt. „Ganz Judäa und alle Einwohner von Jerusalem zogen zu ihm hinaus“, schreibt Markus. „Sie bekannten ihre Sünden.“

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Es ist ein besonderes Erlebnis, wenn jemand an der Original-Taufstelle am Jordan sagt: "Erinnere dich: Du bist eine von Gott geliebte Tochter!"

Hatte denn Jesus auch Verfehlungen einzugestehen? Doch eher nicht! Wenn also Jesus nicht wegen der Vergebung seiner persönlichen Schuld zum Jordan pilgerte, dann doch aus einem schwerwiegenden Grund, denn die Entfernung war keine Kleinigkeit: 130 km – also 4 bis 5 Tage einsamer Marsch, davon die Hälfte durch die Wüste. Es war wohl der Aufruf des Täufers, der sogar bis nach Nazaret gedrungen war.Die Evangelien nennen die Botschaft griechisch METANOIA. Dieses Wort wird oft mit „Umkehr“ wiedergegeben, dies trifft aber den Sinn nicht. METANOIA bedeutet „im Nachhinein zur Einsicht kommen“. Es wird also verlangt, eine ehrliche Lebensrückschau zu halten und  die Hinweise zu beachten, die das bisherige Leben angezeigt hat. Auf Grund der Rückschau ist die Kurskorrektur für das weitere Leben vorzunehmen, ist das Leben neu auszurichten. Würde man METANOIA mit „Umkehr“ übersetzen und  würde man das ernst nehmen, dann würde es verlangen, eine Kehrtwendung zu machen und den Weg zurückzugehen. Das ist aber nicht gemeint und es ist in der Lebens-Wirklichkeit nicht möglich. Jesus hatte sich wegen des Aufrufs zur METANOIA auf den Weg zur Taufe gemacht. Er war zur völligen Neuorientierung nun bereit. Die Zeit war reif, den Zivil-Beruf aufzugeben und als spiritueller Lehrer und Hirte des Volkes zu starten. Das hieß auch „Wegziehen von daheim“ und verwandtschaftliche Bindungen aufzugeben. Sogar seiner Mutter musste er das klar machen und er erinnerte sie später auf der Hochzeit von Kana daran: „Frau, wir haben einen Trennstrich gezogen.“ Er nennt sie dort nicht mehr Mutter.

 

Welches war sein Vorleben, unter das er nun durch den Gang zur Taufe einen Schlussstrich ziehen wollte? Die Evangelien lassen uns völlig im Dunkeln, sie geben uns keine Auskunft, wie das Leben Jesu vorher verlaufen ist. Außer ein paar „Momentaufnahmen“ im Lukas-Evangelium aus seiner frühen Kindheit erfahren wir nichts. Offenbar hat Jesus einen so radikalen Schlussstrich darunter gezogen und hat sein Vorleben in den Fluten des Jordan regelrecht sterben lassen. Deshalb hat er wohl auch seinen Schülern nichts von seinen Jahren in Nazaret erzählt. Man nennt sie die „verborgenen Jahre Jesu“. So  können wir wieder nur Vermutungen darüber anstellen. Er wird mit Beginn des Mannesalters – also mit etwa 15 Jahren das Handwerk ausgeübt haben, das er von Josef, seinem „Wahlvater“ erlernt hat. Er wird früh seine Tüchtigkeit bewiesen haben und durch fachliches Wissen aufgefallen sein. Er wird seine Führungsqualitäten unter Beweis gestellt haben. Vielleicht hat er auf Großbaustellen die Gunst der aus dem Westen stammenden römschen Architekten genossen. Vermutlich beherrschte er neben der aramäischen Muttersprache auch die griechische Weltsprache – in Rede und Schrift. Wir wissen aus der Geschichtsforschung, dass  Herodes während seiner jungen Jahre die Bezirkshauptstadt Sepphoris neu aufbauen ließ (zwischen 6 und 19 n.Chr.) Sepphoris lag 6 km von Nazaret entfernt und für Jesus als Bau-Handwerker bedeutete das einen täglichen Anmarsch zum Arbeitsplatz von 1,5 Stunden, aber es gab reichlich Arbeit und als tüchtiger Fachmann verdiente man entsprechend gut. Davon könnte sein Berufsleben geprägt gewesen sein. Es ist eine berechtigte Vermutung. Was wissen wir über sein Privatleben? War er zwischen seinem 15. und 30. Lebensjahr verheiratet, wie es sich gehörte für jeden jungen jüdischen Mann? Während seines öffentlichen Wirkens ist zwar keine Ehepartnerin an seiner Seite zu bemerken, aber sie könnte ihm früh verstorben sein. Diese Vorstellung mag manchen heutigen Christen erschüttern, aber wir wissen von Paulus, dass er unverheiratet war, von Jesus wissen wir es nach biblischen Befund nicht. Hatte Jesus einen längeren Auslandsaufenthalt? Bei seinem späteren Lehrauftritt in Nazaret gemeinsam mit seinem Schülerkreis fragen die Zuhörer in der Synagoge: „Woher hat er das alles?“ Sie unterstellen ihm offenbar, dass er seine Weisheit im fernen Ausland erworben hat.

 

Jesus hat also vor,  durch seine Taufe bei Johannes einen so entschiedenen Schlussstrich unter sein Vorleben zu ziehen, dass er es nicht mehr für nötig hielt, seinen Anhängern darüber auch nur irgendetwas zu erzählen. Aber ihn selbst muss es beschäftigt haben, während er vier oder fünf Tage unterwegs war zur Taufstelle. Er wird sich auch Gedanken gemacht haben, was nach dem Schlussstrich kommen sollte. Sicherlich betrachtete er das Vergangene und das Bevorstehende im Spiegel der Heiligen Schrift. Er wird keine Bibel im Taschenbuch-Format mitgetragen haben in seiner Pilger-Tasche. Aber er wird die Propheten, die Psalmen und die 5 Mosebücher Großteils auswendig gewusst haben. Er muss an Schafherden und Hirten vorbei gekommen sein und es kann sein, dass ihn der Satz beschäftigt hat, der 30 Jahre zuvor die Sterndeuter nach Betlehem geführt hatte: „… es wird ein Fürst hervorgehen, der Hirt meines Volkes Israel.“ (Micha 5,3 = Mt 1,6) Er wird sich gefragt haben: Wie werde ich Fürst sein? Ich werde die Züge eines besorgten Hirten haben. Vielleicht hat er den Psalm 2 wieder und wieder vor sich hergesagt: „Den Beschluss des Herrn will ich kundtun. Er sprach zu mir: >Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt. Fordere von mir und ich gebe dir die Völker zum Erbe.<“ Vielleicht hat er sich Jesaja 42 vor Augen geführt: „Siehe, … das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt. Er bringt den Nationen das Recht.“

 

Als Jesus dann an der Taufstelle ankam, fand er eine beachtliche Zahl von geistlich suchenden Männern vor. Sie lauschten den Worten des Täufers. Einige hatten ihn zu ihrem spirituellen Lehrer erwählt und waren seine Schüler geworden. Sie hielten sich also länger in seinem Umkreis auf. Sie schliefen in Zelten in der Nähe. Sie lasen gemeinsam aus der Bibel und sangen. Sie verdichteten biblische Kernsätze zu ergreifenden Gesängen. Jesus – damals noch unbekannt und ein Pilger wie die anderen auch – wartete wohl auf den geeigneten Zeitpunkt, bis er an der Reihe war. Der Himmel war bedeckt, aber ohne Regen. Das war normal für diese Jahreszeit. Johannes tauchte einen nach dem anderen im Fluss unter. Es dauerte unterschiedlich lange bei den einzelnen, je nachdem wie viel Zeit jemand brauchte, um über sich und sein bisheriges Leben zu sprechen. Als Jesus dran kam, tauchte ihn Johannes wohl mit derselben Bedachtsamkeit unter. Ob die beiden Männer irgendwelche Worte gewechselt hätten, davon wird nichts berichtet. Es war wohl auch nicht nötig. Vielleicht geschah einfach der Ritus feierlich und schweigend.

 

Anstatt der Worte ereignete sich ein überwältigendes Naturschauspiel, genau während Jesu aus dem Wasser stieg: Es riss die Wolkendecke auf und ein mächtiges breites Sonnenfenster entlud sein Licht. Bei den Umstehenden wird es Staunen ausgelöst haben: Welch eine Lichtflut! Nur Jesus selbst wird es auf sich bezogen haben: Jetzt öffnet sich der Himmel. Er als Erwählter durfte in die Tiefen des Himmels schauen. Wenn man von einem Glanz Gottes sprechen kann, dann war es das, was sich in diesem Augenblick zeigte.

Das zweite Schauspiel war der Anflug einer Taube. Sie flog völlig überraschend auf Jesus zu, so als hätte sie den feierlichen Augenblick gespürt. Sie hatte es bewusst auf ihn abgesehen. Sie umkreiste seinen Kopf. Sie blieb hartnäckig bei ihm und ließ sich dann auf ihn nieder. Wie Jesus das Verhalten der Taube gedeutet hat, das wird nur mit wenigen Worten wiedergegeben: „Der kam auf ihn herab“. Das griechische Wort für Geist ist PNEUMA und das hebräische ist RUACH. Sorgfältig übersetzt heißt es: Atem, Hauch, Wind. Die über dem Jordanwasser auftauchende Taube könnte Jesus erinnert haben an die Taube über den Wassern der Sintflut vor ein paar Tausend Jahren. Sie ist zu Noah zurück gekommen mit einem Ölzweig im Schnabel. Die Taube kündigte die Versöhnung Gottes mit den Menschen an. Gott wollte eine neue Seite im Buch der Menschheit aufschlagen. Er wollte den schuldig gewordenen Menschen die Hand der Versöhnung reichen, wollte ihr die Vergebung anbieten. Somit ist die Botschaft der Taube klar: Schuld-Vergebung, Versöhnung. Wir können von hier aus auch auf den auferstanden Christus hinschauen. Er hauchte seinen Schülerkreis an und sagte: „Empfangt den Heiligen Geist. Er befähigt euch, vielen belasteten Menschen ihre Schuld zu erlassen.“ Die Geistkraft stattet berufene Menschen mit der Fähigkeit aus, Versöhnungsarbeit zu leisten. Mithilfe des Hauches Gottes können viele aus ihrer schuldverstrickten Lage befreit werden. So kommen sie wieder mit sich ins Reine und mit denen, wo es Brüche gegeben hat.

 

Das dritte Schauspiel war von akustischer Art. Es entstand ein Klang. Der Original-Text sagt nicht: „Eine Stimme sprach“, sondern das griechische Wort PHONE heißt „Klang“, „Ton“, „Schall“. Paulus verwendet das Wort PHONE einmal eindeutig für Musikinstrumente: "Wenn eine Flöte oder eine Harfe, nicht deutlich unterschiedene Töne hervorbringen, wie soll man dann erkennen, was auf der Flöte oder auf der Harfe gespielt wird?“ (1 Kor 14,7). Der Klang "sprach" nicht, sondern „er geschah“, das heißt er ereignete sich. Ein Satz stammte aus den Psalmen: „Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt.“ (Psalm 2,7) Ein weiterer Vers stammte aus dem Buch Jesaja: „Siehe, mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen“ (Jes 42,1). Es war unüberhörbar, dass jemand laut Verse aus der Bibel gerufen oder gesungen hatte. Aus wessen Mund gerade diese Verse genau in dem Augenblick ertönten, wird uns nicht gesagt. Es ist auch nicht entscheidend, eindeutig aber  ist die Empfindung, die bei Jesus ausgelöst wurde: Der Ruf war "himmlisch". Vielleicht sang gerade eine Pilgergruppe im benachbarten Zelt feierlich die Bibeltexte. Vielleicht dröhnten innerlich die Sätze noch nach, die Jesus während seiner viertägigen Pilgerroute immer wieder beschäftigt hatten. Auf Jesus haben sie wie ein Schall aus dem Himmel gewirkt – gesprochen  von ganz oben - genau auf ihn zugeschnitten. Wie nahe muss ihm das gegangen sein! Welch eine Bestätigung muss das gewesen sein für sein bisheriges Leben, das unauffällig und doch von großer Liebe und starker Mitmenschlichkeit geprägt war. Der Klang sagt ihm vom Himmel her und zugleich aus seinem Seelengrund heraus: „Du hast mir gefallen bisher. Mit dir bin ich voll und ganz einverstanden. Du bekommst die Rechte des Sohns von mir verliehen – wie ein Erstgeborener. Unsere Beziehung gründet auf Liebe.“ So wortreich wie hier in dieser Deutung war die Mitteilung wohl nicht, aber alle diese Botschaften waren darin enthalten. Sie galten Jesus allein. Er war angeredet: „Mein geliebter Sohn – der bist du“. Zwei Jahre später am Berg der Verklärung wird der Klang wieder entstehen und er wird aus der Wolke sagen: „Dieser ist (nicht mehr: Du bist …) mein geliebter Sohn.“ Dann wird die Botschaft für die drei engsten Begleiter gedacht sein. Jesus selbst brauchte die Zusage dann nicht mehr, für ihn hatte sie bereits Gültigkeit seit seiner Taufe am Jordan.

 

Es waren drei überwältigende Botschaften: 1. der aufgerissene Himmel, 2. die Taube als Brückenbauerin zwischen verschuldeter Erde und vergebungsbereitem Himmel, 3. die in Klangsphären verkündete Zusage: Mein geliebter Sohn, der bist du. Eine von den drei Botschaften hat der Täufer genauso verstanden wie Jesus selbst und der Täufer sollte sie auch später bezeugen: „Ich sah, dass der Geist vom Himmel herab kam wie eine Taube und auf ihm blieb.“ (Joh 1,32) Die beiden anderen Phänomene mögen mehrere Pilger gesehen und gehört haben, aber die Leute werden sie bloß als zufälliges Ereignis empfunden haben. Wie aber kam die Schilderung in die Evangelien, wenn noch keiner der Apostel dabei war und Jesus selbst noch unbekannt und ein Pilger unter vielen war?  Woher wissen wir davon? Jesus hat es zunächst allein auf sich selbst bezogen und er muss es lange mit sich getragen haben. Erst viel später wird er es seinem Anhängerkreis erzählt haben. Er selbst fühlte sich unmittelbar angesprochen. Innerlich mag er schon vorbereitet gewesen sein. Trotzdem ist ihm die Botschaft zutiefst nahe gegangen, die ihm auf dreifache Weise gezeigt wurde. Er fühlte sich vom Hauch Gottes liebevoll umweht und zugleich überwältigt. Vielleicht war er den Tränen der Rührung nahe und vielleicht zitterte er vor Ergriffenheit. Jedenfalls musste er den Schauplatz sofort verlassen und das Erlebte noch tagelang für sich nachwirken lassen. Eilig packte er wohl seine Pilgerhabseligkeiten zusammen und ging in die umliegende Wüste. Nein, der Bibeltext sagt nicht „er ging in die Wüste“, sondern: „Sogleich trieb der Geist Jesus in die Wüste.“ Es war die Macht der Liebe, die ihn dazu drängte, ganz bei sich zu bleiben, sich nicht von Geschäftigkeit ablenken zu lassen. Er musste sich in die Gegenwart dessen stellen, die ihm zu verstehen gegeben hatte: „Mein geliebter Sohn - der bist du.“

 

Was können wir daraus lernen?

Wir sind in der Religion gewohnt, solche Schilderungen nicht als „wirklich“ oder „tatsächlich stattgefunden“ zu erachten, sondern nur symbolisch oder als „wirklich“ im religiösen Sinn. Sie hat angeblich mehr spirituellen Wert als realen. Wir trennen zwischen religiösem Raum und weltlichem Raum, zwischen Glaubenswelt und Alltagswelt. Dem soeben Geschilderten weisen wir seinen Platz in der Glaubenswelt zu, nicht aber in der Welt der realen Dinge, der Naturereignisse, der Wissenschaft. Diese Scheidung in zwei getrennte Bereiche hat vor 80 Jahren schon Dietrich Bonhoeffer bemängelt. Er hat  gemahnt, dass es dringend an der Zeit ist, die christliche Botschaft in der Alltagswelt zu verwurzeln und anzuwenden. Er schrieb 1944 „Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum Leben.“ Deshalb ist es ratsam, das Evangelium so lebensnah als möglich zu lesen und zu verstehen. Glauben schließt  die Vernunft mit ein. Gewisse Bibelstellen kritisch zu hinterfragen ist erlaubt. Glauben muss handfest sein, Wissen und Verstehen gehören dazu.

 

Die Schilderung will uns zeigen, wie sich die Berufung bei Jesus zugetragen hat. Hier hat er seine Sohnschaft bestätigt bekommen. Aber es war nicht nur für ihn allein die Sohnschaft, Jesus wird zum Modell für uns. Jeder, der sich ihm anvertraut, kann Sohn oder Tochter Gottes werden. Wer in die Gefolgschaft Jesu eintritt, für den kommt auch die Stunde, dass er vom Himmel deutlich zu hören und zu spüren bekommt: Du bist meine geliebte Tochter, du bist mein geliebter Sohn. Manche bestehen darauf, dass nur Jesus allein der-geliebte Sohn Gottes sei, es könne nur einen Sohn geben. So jemand verwechselt Gott mit Sportveranstaltern. Im Rennsport kann nur einer auf dem Siegerpodest stehen. Beim göttlichen Vater kann jemand sein geliebter Sohn, seine geliebte Tochter werden, der/ die sich ihm ganz anvertraut. Wir können uns die Wesenszüge des VATERS nicht menschlich genug vorstellen: Er will für seinen Sohn/ seine Tochter immer das Beste. Er wird sie begünstigen gegenüber den normalen Leuten, weil er ja ihr Vater ist. In Schwierigkeiten kommt er ihnen mit allem zu Hilfe, was in seiner Macht steht. Er will aber nicht nur den Notrufdienst spielen, sondern freut sich, wenn sich die Jungen "einfach so" von Zeit zu Zeit sehen lassen bei ihm. Auf Huldigungen legt er keinen Wert. Lieber will er stolz sein können auf sie, weil sie das Gute fortsetzen, das er schon vor langer Zeit begonnen hat.

 

Unser Alltag ist begleitet von Ereignissen, die „wirklich“ sind und Symbolkraft in sich tragen. Es liegt an uns, sie zu bemerken und zu beachten. Dann sind sie nicht mehr etwas zufällig Geschehenes, sondern sie entwickeln ihre Langzeitwirkung, dann können sie richtungsweisend werden, dann können sie unsere Sendung anzeigen. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit dafür schärfen. Die Medien halten uns zwar überwiegend andere Ereignisse vor Augen: Unfälle, Verbrechen, Katastrophen. Aber wenn wir regelmäßig innehalten und hinschauen auf den sogenannten Alltag, sehen wir die wegweisenden Zwischenfälle, wo sich für uns der Himmel öffnet. Wir sollten dankbar dafür sein und die Dankbarkeit weiter einüben. Wer spirituell fortgeschritten ist, wird sogar den sogenannten Schicksalsschlägen gute Seiten abgewinnen. Im Nachhinein wird er feststellen, dass sie Gelegenheiten sind, umzudenken und sich künftig anderes zu verhalten. Sie fordern uns heraus, zu mehr Blick auf das Wesentliche, zu mehr Hilfsbereitschaft, zu mehr Fürsorge um die Nächstliegenden.

 

Wer getauft ist, kann sich meist leider nicht an das Taufereignis erinnern, weil es im Babyalter geschah. Trotzdem sollten wir uns bei Anlässen diese Tatsache bewusst machen. Wir sollten uns in Erinnerung rufen: Ich bin Gottes geliebte Tochter –  ich bin sein Sohn, um den er sich sorgt. Er ist der VATER, der auf mich schaut und der viele Möglichkeiten hat, mir wieder auf die Sprünge zu helfen. Ein VATER lässt seinen Sohn/ seine Tochter nicht hängen. Der VATER möchte sehen, dass er stolz sein kann auf seine Tochter, seinen Sohn. Wir gehören zu einer Familie zusammen, von der er der VATER ist. Die Leiter von Gottesgemeinden könnten diese Einsicht gelegentlich ins Bewusstsein rufen. Hier sind nicht bloß Besucher versammelt, sondern Brüder und Schwestern, Söhne und Töchter des gemeinsamen VATERS.

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