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Alle konnten ihn sehen,

erschraken aber zunächst

9. Aug 2020

19.Sonntag im Jahr.kr.

Matthäus 14,22-33

Von diesem Evangelien-Stück weiß man nicht einmal, welche Überschrift man ihm geben soll. „Der Gang Jesu auf dem Wasser“ schrieb die frühere Einheitsübersetzung. Die neue schreibt: „Die Offenbarung des Gottessohnes auf dem Wasser.“ Andere schreiben: „... Erscheinung ...“, andere „Er geht über das Wasser“, andere „Er wandelt auf dem See“ oder „Zug Jesu über das Meer“. Allein an den Überschriften ist zu erkennen, dass sich die Übersetzer und die Ausleger schwer tun. Das war schon bei den 4 Evangelisten so. Lukas in den 90er Jahren hat die Schilderung erst gar nicht aufgenommen in sein Werk. Matthäus in den 80er Jahren hat sie umgedeutet, ebenso wie Johannes. Nur bei Markus Ende der 60er Jahre ist sie ganz nüchtern wiedergegeben.

Wir wollen zunächst textgetreu auf Markus hinhören, dann unbrauchbare und zutreffende Deutungen vorlegen und schließlich auf die Matthäus-Version eingehen.

Das Ereignis schließt unmittelbar an die große Speisung der 5000 an. Erfunden ist die ange-hängte Geschichte keineswegs, sie hat sich zugetragen – aber wie und wofür war sie gut? „Jesus drängte seine Jünger, ins Boot zu steigen und an das andere Ufer nach Betsaida voraus zu fahren. Er selbst wollte inzwischen die Leute nach Hause schicken.“ (Mk 6,45) Warum bestand Jesus so entschieden darauf? Es war wohl eine Vorsichtsmaßnahme gegenüber unberechenbaren Übergriffen und Festnahmen des Machthabers in der Region. Betsaida lag außerhalb des Herrschaftsgebietes von Herodes. Wenig vorher ist bei Markus zu lesen: „Der König Herodes hörte von Jesus, denn sein Name war bekannt geworden und man sagte: Johannes der Täufer ist von den Toten auferstanden, deshalb wirken solche Kräfte in ihm.“ (Mk 6,14) Wer für Tausende von Menschen Verpflegung zu organisieren im Stande ist, kann politisch gefährlich werden. Jesus wollte den Übergriffen des Politikers zuvor kommen. Deshalb setzte er gegenüber der begeisterten Volksmenge einen deutlichen Schlusspunkt. Er verabschiedete sie herzlich, aber unmissverständlich. Er schickte sie heim. Kein langes Weiterfeiern! Das Abschied nehmen war ihm wichtig. Dann verschwand er selber in der Dämmerung. Er zog sich in die Stille zurück. Dabei stieg er auf die Anhöhe hinauf und gab sich dem VATER hin. Sich in der Urkraft neu zu verankern, war wie das tägliche Brot für ihn. Im Gebet verflossen Stunde um Stunde. Die Nacht war schon weit fortgeschritten, da befand sich das Boot mitten auf dem See. Jesus hingegen war auf festem Boden in seiner spirituellen Hingabe.

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Er schrie: "Herr, rette mich!"

Jesus streckte sofort seine Hand aus

und ergriff ihn

und sagte:

"Du mit deinem geringern Vertrauen!

Warum zweifelst du?"

​Dabei verlor er nicht die Aufmerksamkeit gegenüber den Naturereignissen. Er spürte den aufkommenden kalten Wind. Er sah auch, wie sich seine Freunde abquälten beim Rudern. Er sah das, trotz der großen Entfernung. Der Wind kam ihnen von Osten her frontal entgegen, er war eiskalt und besaß die Wucht, sie zurück zu drängen. Es war kein Seesturm, sondern der bekannte Frühjahrswind, der von den noch kalten Hochebenen des Golan herunter strömte und über die schon frühsommerlich warme Wasseroberfläche glitt. (Wer das anschaulich verstehen will, braucht sich nur eine Landkarte von Galiläa zur Hand zu nehmen: „Gaulanitis“ ist der alte griechische Name für „Golan“).

Im letzten Viertel der Nacht, also schon in der Morgendämmerung ereignete sich sein Kommen. Es ereignete sich so, dass er in einiger Entfernung auf dem See hin und her ging. Er ging nicht auf sie zu, sondern er schien an ihnen vorüber gehen zu wollen. Er wollte sich einfach nur zeigen, nur sehen lassen und sie dadurch beruhigen. Sie aber empfanden dieses Sehen nicht als Trost oder Ermutigung, sondern Entsetzen packte sie. Sie sahen sein Bild auf dem See und schrien auf. Es war ein Trugbild, sie hielten es für eine visuelle Täuschung. Es war nicht die Einbildung eines einzelnen, es war keine Vision, sondern alle sahen es. Gegenseitig bestätigten sie sich das voller Erschrecken. Viele Übersetzungen schreiben von einem „Gespenst“. Das trifft aber nicht das griechische Original-Wort PHANTASMA. Das bedeutet „Trugbild“. Er wiederum merkte in der Entfernung, wie sie das Sehen aus der Fassung brachte. Deshalb begann er durch Zurufe und mit seiner Stimme die Brücke zu ihnen aufzubauen. Er rief wie schon so oft früher: „Seid zuversichtlich! Habt Vertrauen!“ Er sprach ihnen Mut zu. Dann kam das starke Wort: „Ich bin es, ja ich selber!“ Das klang, wie wenn ein guter Freund in der Nacht an die Tür klopft und er versichern will: „Es ist kein Betrug. Ich bin es! Du kennst doch meine Stimme.“ Es klang aber auch nach dem Gottesnamen: „Jahwe – ich bin der Ich-Bin.“ Nochmals sagte er: „Ihr braucht keine Angst zu haben.“ Während er sie mit seinen Worten zu beruhigen versuchte, näherte er sich ihnen immer mehr. Schließlich stieg er zu ihnen ins Boot hinauf. Der Originaltext sagt eindeutig, dass er hinauf geklettert ist von unten über den Bootsrand. Dieses kleine Wort „hinauf“ übergehen die meisten Übersetzungen. Damit glaubt der Leser, Jesus sei flach am Wasser daher gekommen und so ins Boot gestiegen. Das Wort „einsteigen“ kommt an anderen Stellen vor: „Sehr viele Menschen versammelten sich um ihn. Er stieg deshalb in ein Boot auf dem See und setzte sich.“ (Mk 4,1) Hier aber ist vom „hinauf steigen“ die Rede. Er stand offenbar hüfttief im seichten Wasser und stieg zu ihnen hinauf, um ganz mit ihnen zu sein. Gleichzeitig nahm die Heftigkeit des Windes ab. Er wurde ruhig. Das nützte alles nichts: Sie waren immer noch fassungslos und über die Maßen erschüttert. - - Damit endet die Schilderung. Erst Matthäus – 50 Jahre später – hängt das Petrus-Versagen an.

 

Wie sich das Ganze tatsächlich zugetragen hat, verschweigt das Evangelium. Es sagt uns nur, was es ausgelöst hat. Der damalige orientalische Mensch fragte nicht danach wie der heutige westliche Mensch: Ist das physikalisch möglich, dass jemand über Wasser geht? Hingegen ist unserer modernen Gesellschaft die andere Frage verloren gegangen: Was könnte das Ereignis für uns bedeuten? Die vorschnelle Antwort von Seiten der Hüter des Glaubens lautet oft: Jesus war Gott und daher konnte er das einfach: Er konnte die Gesetze der Natur außer Kraft setzen und konnte schwerelos über das Wasser gehen. Andere Lösungsversuche kommen aus der Wissenschaft: Es soll im Nahen Osten so starke Klimaschwankungen gegeben haben, dass der See Genezaret an wenigen Stellen zugefroren sein könnte. Jesus wäre demnach von einer Eisscholle auf die andere gestiegen. Dieser Klimaforscher hat den biblischen Text nicht erforscht, denn der sagt, dass die Vertrauten des Jesus schon stundenlang im Boot unterwegs waren. Da müssten sie nicht nur gegen den Wind, sondern auch gegen die Eisplatten gekämpft haben. Ein anderer Lösungsvorschlag kommt aus der Witzkiste: Drei Geistliche streiten über diese Geschichte, nur der dritte weiß, dass Jesus die unter Wasser versteckten Steinplatten gekannt hat. Wenn man sich im Internet angebotene Videos ansieht, löst das mehr Verblüffung über die Filmkunst von Hollywood aus, als dass es ein neues Vertrauen zu Jesus wecken würde. Einleuchtend ist die Erklärung durch Luftspiegelung - ein äußerst seltenes Phänomen, das eher als Phata-Morgana in der Wüste am heißen Sand bekannt ist. Es kommt auch auf dem Wasser vor. Dazu muss eine dünne vorgewärmte Wasserschicht vorhanden sein, über die ein kalter Luftstrom dahin gleitet. Nachgewiesen ist dieses Phänomen an der Ostsee und in der Meeresenge von Sizilien und Süditalien. Die Aufzeichnungen darüber sind verblüffend. Man sieht Menschen verschwommen, wie sie sich auf dem Wasser fortbewegen. Die nötigen Bedingungen könnten damals am Nordende des Sees Genezeret und in der Jahreszeit gepasst haben, wo der Jordan einfließt und ein flaches Schwemmland geschaffen hat. Der kalte Wind vom Golan herunter kommend hätte das Nötige beigetragen. Jesus ist ein feiner Beobachter von seltenen Vorgängen in der Natur und in seiner Schule kann man lernen, sich für außergewöhnliche Möglichkeiten offen zu halten. Oberflächlichen Leuten würden diese Wege nie in den Sinn kommen.

 

Der Evangelist Lukas ist ein Schriftsteller mit griechisch-römischer Denkweise und ebensolchem Leserkreis, was unserer westlichen Welt näher steht. Er lässt diese Geschichte einfach weg. Der Evangelist Matthäus bringt sie in die Nähe der Auferstehungsbilder und aus seiner Feder stammt der Anhang mit Petrus. Es handelt sich nicht um ein tatsächliches Ereignis am See, sondern um eine Erfahrung der Gemeinden, für die Matthäus sein Handbuch des Glaubens schreibt. Das verraten Feinheiten im Text: „Herr, wenn du es bist“ betete die Gemeinde der 80er Jahre. Petrus sprach Jesus nicht mit „Herr“ an, sondern mit „Rabbi“ (Meister). Wenn Petrus schon auf dem Wasser geht und die Erfahrung macht, das es tatsächlich trägt, dann hätte nicht der „heftige Wind“ plötzlich seine Angst vor dem Sinken auslöst, das ist nicht logisch. Wenn ich „auf gefestigtem Grund“ gehe, ist es nicht der Wind, der verunsichert. Eher klingt jener „heftige Wind“ an, dem die Gemeinden ausgesetzt sind und es mit der Angst zu tun bekommen, unterzugehen im römischen Reich. „Die Jünger im Boot fielen vor Jesus nieder“ – das ist platzmäßig nicht möglich: Zwölf Männer können nicht flach liegen in einem Fischerboot, in dem sie kaum sitzend alle Platz haben. Es ist die Jünger-Gemeinde der 80er Jahre in Syrien, die sich an einem Gebetsabend „vor dem Herrn“ niederwirft und „Wahrhaftig“ ruft. „Der wahre Gottes Sohn bist du!“ – das noch dazu zu einer Zeit, als Kaiser Domitian (81 – 96 n.Chr.) sich immer größer und mehr rechthaberisch aufspielt. Er vergreift sich sogar am Gottesanspruch und verlangt von seinen Statthaltern in den Provinzen, zu bekennen: „Dominus et Deus noster.“ „Unser Herr und Gott.“

 

Matthäus beendet sein Werk mit dem Sendungsauftrag des Auferstandenen. Auch hier fallen die Jünger nieder vor ihm. Er versichert ihnen: „Ich bin mit euch alle Tage.“ Deshalb ist er auch damals ins Boot hinauf gestiegen, um sie genau das erleben zu lassen. „Ich bin mit euch“ – das gilt heute genauso. Er findet Möglichkeiten, sich sehen zu lassen vor seinem Schülerkreis, um sie zu ermutigen. Das könnte für die Gemeinden von heute tröstlich sein. Es könnte sogar ein Ansporn sein, es so zu machen wir er: anderen ein Bild zu schicken von Ereignissen, in denen ER da war, erfahrbar war, mit dabei war. Gerade, wenn jemand gegen den Wind ankämpft, täte ihm ein Bild gut, das aufbaut, das Nähe vermittelt. Gerade, wenn eine Gruppe schwimmt und dabei die Richtung verliert, kann sie ein zugesandtes Bild aufmuntern. Es sagt ihnen: „Wir sind mit euch. Mehr noch: ER ist mit euch.“

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