17.Juli 2022 16.Sonntag im Jahreskreis
Das Viele und das Eine
Lukas 10,38-41
Als sie weiterzogen, kam er in ein Dorf. Eine Frau namens Marta nahm ihn gastlich auf. Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß. Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu. Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen zu dienen. Sie kam zu ihm und sagte: Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen! Der Herr antwortete: Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden.
Maria ist die geheime Hauptfigur der Geschichte, obwohl sie kein Wort spricht und nur Martha redet und sich dabei beschwert. Maria sitzt zu Füßen ihres Herrn und Meisters und lauscht seiner Rede. Dafür erntet sie Vorwürfe von ihrer überbeschäftigten Schwester – ihrer leiblichen Schwester oder aus Gemeinde-Erfahrungen des Lukas um 90 n.Chr. von ihrer "Mitschwester". Aber sie verteidigt sich nicht – das tut ihr Herr für sie.
Nun betrachten wir die Schilderung des Lukas im Einzelnen : Jesus und seine Begleiter-Schar, die Zwölf, waren unterwegs – wie immer: Unterwegs. Sie kamen wieder in ein Dorf. Genau genommen sagt der Text: Sie (!) zogen ihres Weges und er (!) kam in ein Dorf. Das hört sich so an, als hätte er es betrieben, dass sie genau in dieses Dorf kamen. Sie kamen nicht zufällig dorthin. Es könnte sein, dass er dort jemanden kannte. Es könnte sich um den östlichen Vorort von Jerusalem handeln, genannt Betanien.
Den Ortsnamen wissen wir vom Johannes-Evangelium, und wir können annehmen, dass es sich bei Maria und Marta um die beiden Schwestern des Lazarus handelt. Heute ist der Ort leider von der Hauptstadt Jerusalem abgetrennt, weil er ein palästinensisches Dorf ist. Acht Meter hohe Betonwände hat Israel als Grenzmauer durchs Land gezogen. Daher können auch Pilgergruppen dort nicht mehr wie früher zu Fuß gehen. Es wären nur 3 km von Betanien nach Jerusalem. Den Namen des Dorfes verschweigt Lukas, vielleicht weil er in seinem Reiseverlauf noch nicht den Eindruck von Jerusalem-Nähe erwecken will. Er will Jesus erst noch in Jericho eintreffen und von dort nach Jerusalem ziehen lassen – in den späteren Kapiteln seines Buches. Es geht ihm eher um eine inhaltliche Gegenüberstellung von „etwas tun“ und „sich dem Wort widmen“. Es klingt noch der Schlusssatz vom Stück zuvor nach: „Geh und handle du genauso!“ Jetzt endet das Stück mit dem Lob für die Person, die nur die Horchende ist und nicht die Tuende. Anschließend erfolgt eine Gebetslehre in Lukas 11.
Nach der kirchlichen Überlieferung ist Maria, die Schwester der Marta, dieselbe, die sonst Maria Magdalena genannt wird. Für viele Exegeten sind die beiden Marias nicht dieselben. Die Entdeckung des biblischen Magdala war eine archäologische Sensation. Erst in den letzten 14 Jahren wurde es ausgegraben und ein Pilgerzentrum auf dem Grundstück erbaut. Diese Pilgergruppe steht in der modernen Kirche, deren Glasfront sich zum See hin öffnet.
Jesus kam also in ein Dorf, wo er diesmal nicht abgelehnt wurde wie in Samaria – im Gegenteil: Eine bestimmte Frau, deren Name Marta war, hieß ihn willkommen – in erster Linie ihn, aber damit auch seine Gruppe. Sie schien dort Ansehen zu haben, jedenfalls bedeutet der Name Marta soviel wie „Herrin“. Sie freute sich sicher außergewöhnlich über die Ehre, dass er in ihrem Haus Station machte. Sie bediente den hohen Besuch und ließ es den Gästen an nichts fehlen, sicherlich unterstützt von ihrem Personal. Sie hatte eine Schwester, die Mariam hieß. Die ließ es sich nicht nehmen, sich im Kreis der vielen Männer dazu zu sitzen. Sie tat das unbekümmert– offenbar hatte sie keine Berührungsängste vor Männer-Runden. Sie setzte sich zum Zuhören ganz in die Nähe Jesu, sicherlich auf den Boden – wie die Männer auch (Sessel, wie wir heute, hatten sie nicht) Sie suchte sich ihren Platz bei seinen Füßen. Sie wollte ihm lauschen. Nichts von seiner Rede sollte ihr entgehen. Die Einheitsübersetzung schreibt zwar: „Sie hörte seinen Worten zu“, aber im Originaltext ist vom „Wort“ die Rede, nicht von „Worten“ (griechisch LOGOS, Singular). Damit sind also nicht einzelne Aussagen gemeint, sondern die Botschaft als ganze, sein gesamtes Thema. Lukas nennt ihn nicht „Meister“, so wie er zu Lebzeiten angesprochen wurde, sondern „Herr“ und dies gleich dreimal in der Erzählung. Das lässt auf die Zeit schließen, in der Lukas das Stück verfasst hat. In den 90er Jahren gilt Jesus nur noch als der „Herr“. Lukas schreibt bewusst: Sie setzte sich zu den Füßen des „Herrn“, statt zu den Füßen „Jesu“. Im Stück vorher und nachher nennt er ihn „Jesus“. Warum hier „Herrn“? Er verfolgt damit wohl eine Absicht. Auch in seiner Zeit – 60 Jahre später – gab es Anhänger, die zu Füßen "des Herrn" saßen und in erster Linie auf „sein Wort“ hörten (Das wird 2 Jahrtausende später ebenso sein.)
Lukas hat seinen Lesern bereits 2 Kapitel vorher einige Frauen vorgestellt – dort noch in der Heimatregion Galiläa. Da war Jesus unterwegs gewesen von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt – immer in Begleitung seines Schülerkreises, den „Zwölf“ – das waren Männer. Darüber hinaus schlossen sich auch Frauen seiner Wanderschule an, was für damalige Verhältnisse ungewöhnlich war. Sie zeigten ihm hohe Dankbarkeit dafür, dass er sie von gesundheitlichen Problemen befreit hatte – von körperlichen oder seelischen. Es ist nur zu verständlich, dass Maria die Gelegenheit nützte, dem Herrn an den Lippen zu hängen. Welch ein Zauber in seiner Stimme, welch eine Wärme in seinen Worten, welch eine Klarheit in seiner Lehre! Sie war gebannt von seinem Wort.
Ihre Schwester war von etwas anderem ganz in Anspruch genommen: von dem umfangreichen Dienst an den Besuchern. Mit Dienst, auf Griechisch DIAKONIA, ist Tischdienst gemeint. Sie erfüllte viele Dienste gleichzeitig und sie fühlte sich ziemlich überlastet damit und hin und her gerissen. Dabei warf sie wohl gelegentlich einen Blick auf ihre Schwester, die entspannt und selig dem Wort des Herrn lauschte. Schließlich reichte es der überbeschäftigten Marta. Sie stellte aber ihre Schwester nicht selbst zur Rede, sondern nahm sich die Autorität des Herrn zu Hilfe. So trat sie an ihn heran und beklagte sich: „Herr, es fällt dir offenbar gar nicht auf, dass sie mir den Dienst alleine machen lässt. Warum kümmert dich das nicht? Sag meiner Schwester doch: Sie soll mir zu Hilfe kommen.“ Mit dieser Klage hat Marta übertrieben: So alleine war sie nicht, denn sie hatte sicherlich Personal zu Hilfe. Offenbar gab es tiefere Gründe. Und die viele Geschäftigkeit hatte ihr niemand aufgetragen. Jesus sicher nicht, denn er ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen. Aber es ist ganz offensichtlich der Schwester die Geduld gerissen. Sie hat wenig Verständnis für das übertriebene „Hören auf das Wort“. Da gibt es so viele wichtige Dinge, die unerledigt liegen bleiben. Man sollte genau auf ihre Formulierung hinhören: „Sie soll mir(!) helfen!“ Sie sagt nicht: Sie soll helfen, dich zu bedienen, sondern „mir“ helfen. Maria soll das tun, was Marta als wichtig erscheint. Wieder lässt Lukas Aktualität durchklingen: Dass er zweimal das Wort „Schwester“ einbaut, klingt nach Gemeindesituation. Vordergründig ist die leibliche Schwester der Marta gemeint, hintergründig auch die Mitschwester in der Glaubensgemeinschaft seiner Zeit. Die weiblichen Mitglieder wurden im frühen Christentum „Schwerstern“ genannt. Wenn wir die Schlussworte des Römerbriefes aufschlagen, finden wir das bestätigt: Paulus im Jahr 57 n.Chr. schreibt: „Ich empfehle euch unsere Schwester Phöbe, die Dienerin der Gemeinde von Kenchreä“ (Röm 16,1).
Lukas berichtet in der Apostelgeschichte, dass in der Jerusalemer Urgemeinde die Spannung entstanden ist zwischen Dienst an den Armen und dem Dienst am Wort. Bestimmte Witwen waren bei der täglichen Versorgung (=DIAKONIA) zu kurz gekommen. Da riefen die Zwölf die ganze Schar der Jünger zusammen und erklärten: Es geht nicht an, dass wir das Wort (= LOGOS) Gottes vernachlässigen und uns dem Dienst an den Tischen widmen. (Apg 6,1f)
Zurück zur Beschwerde der Marta: Was könnte Jesus der verärgerten Frau nun antworten? Bevor wir die tatsächliche Antwort lesen, spielen wir ein paar mögliche Antworten durch. Er könnte Marta Recht geben und sich an Maria wenden und sagen: „Maria, steh auf und lass deine Schwester nicht alles alleine erledigen.“ Oder er könnte erkennen, dass Marta aus Missgunst so geredet hat und könnte sie ermahnen: „Warum bist du neidisch? Vergönne ihr doch die Freude am Zuhören.“ Nein, nichts von beiden sagt Jesus! Was Jesus jetzt antwortet, ist eindringlich: „Martha, Martha“. Er spricht sie zweifach mit ihrem Namen an. Wird das einen mahnenden oder liebevollen Unterton gehabt haben? Lukas verwendet wieder den Titel „Herr“ und will damit ausdrücken, dass Jesus es sagte über Zeiten hinweg zur Gemeinden des 1.Jahrhunderts bis heute: „Du machst dir Sorgen und plagst dich ab um das Viele.“ (Nicht wie die Einheitsübersetzung schreibt: „Du machst dir viele (!) Sorgen“ sondern „Du machst dir Sorgen um viele Dinge. Du hast Angst, dass das Viele unerledigt bleibt". Jesus steigert sogar noch: "Du bist hin und her gerissen davon.“ Das klingt so wie: "Einmal das und einmal das." Dem Vielen stellt nun Jesus das Eine gegenüber, das wirklich nötig ist. Er sagt ganz schlicht: „Wichtig und Not-wendend ist nur das Eine. Das Eine braucht der Jünger wirklich.“ Jesus führt nicht genauer aus, was er mit dem Einen meint, aber wer dafür ein Gespür hat, der kennt sich schon aus. Jedenfalls hat er dem Vielen das Eine gegenüber gestellt, dem Geschäftig-Sein hat er das Hinhören auf sein Wort gegenüber gestellt. Dann bestätigt er noch: „Maria hat eine gute Entscheidung getroffen mit dem, was sie tut. Es ist nicht der schlechteste Anteil, den sie ausgewählt hat.“ Wenn Jesus von dem guten Anteil redet, hat er offenbar auch andere Anteile im Blick, die das Leben der Menschen ausmachen. Viele halten andere Anteile für gut und wertvoll. Vielleicht meint Jesus, dass manche Anteile nur kurzlebig sind, man kann sie leicht verlieren. Deshalb fügt er noch hinzu: „Was sie gewählt hat, das wird ihr nicht genommen werden. Sie hat sich für etwas entschieden, das ihr niemals mehr entrissen oder geraubt werden kann. Es ist ein Schatz, der unverlierbar ist.“ Der Herr nimmt die Hörende in Schutz gegenüber der Organisierenden. Er spielt die beiden nicht gegeneinander aus, er stellt nicht eine über die andere, er gibt keine Rangordnung vor, aber er sagt unmissverständlich: „Gebraucht wird das Eine, getan wird oft das Vielfältige, das Umfangreiche“
Marta und Maria – zwei Frauen stehen für zwei Haltungen in der Kirche. Marta plagt sich ab und Maria sitzt horchend zu Füßen des Herrn. Beide sind wertvoll. In der frühen Kirche (50 – 60 n.Chr.) schreibt Paulus briefliche Grüße, die beide Aspekte bestätigen: Im Schlussteil des Römerbriefes grüßt er fast 30 Mitglieder namentlich. Von vieren betont er, wie sehr sie sich „abmühen“. Alle vier sind Frauen. „Grüßt Maria, die für euch viel Mühe auf sich genommen hat.“ (Röm 16,6) „Grüßt Tryphäna und Tryphosa, die für den Herrn viel Mühe auf sich nehmen. Grüßt die liebe Persis; sie hat für den Herrn große Mühe auf sich genommen.“ (Röm 16,12) Er ruft in einem anderen Brief dazu auf, sich in allen Lebenslagen bewusst zu sein, dass wir in der Gegenwart Gottes sind: „Sorgt euch um nichts, sondern bringt in jeder Lage betend und flehend eure Bitten mit Dank vor Gott!“ (Phil 4,6). In der modernen Kirche liegt der Schwerpunkt mehr auf Planung und Organisation, weniger auf dem Hören auf das Wort. Terminkalender gehören zu den wichtigsten Instrumenten der kirchlichen Mitarbeiter. Das ist „das Viele“ von dem Jesus spricht. „Du hast Angst um das Viele, nötig ist hingegen das Eine“ Den Tatkräftigen fällt es oft schwer zu bergreifen, wie jemand lange still sitzen und ganz in sich hinein horchen kann. Aber es sind eben verschiedene Charakterzüge von Menschen. Jesus erhebt nicht mahnend den Zeigefinger von denen, die nur Verwalten und Einteilen. Eher bestärkt er diejenigen, die schon Kenntnis haben von dem Einen, damit sie nicht in Gefahr geraten, es zu vernachlässigen. Er ermahnt nicht die Geschäftigen zu mehr „Hören“, sondern ermutigt die Horchenden. Er bestärkt sie und er stellt ihnen Maria als Modell vor Augen. Es gab diese „Schwestern“ in der frühen Kirche und es gibt sie in unseren Kirchen. Sie wissen sich zu nähren und Kraft schöpfen vom „Wort aus dem Mund des Herrn“. Sie tun sich nicht hervor, sie sind nicht auffällig, aber sie verwirklichen das Notwendige. Anders als die Geschäftigen sind sie ausgeglichen und einfühlsam. Die Planer und Organisierer erzeugen Druck. Durch sie soll etwas vorangetrieben werden. Sie müssen Acht geben, dass sie nicht selbst Getriebene werden. Durch die Hörenden wird in der Gemeinde die Nähe zu Christus aufrecht erhalten, die Nähe zum Ursprung. Das ist dringend nötig.