15.Mai 2022 5.Sonntag nach Ostern
Einander lieben - aber wie?
Als Judas hinausgegangen war, sagte Jesus: Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht und Gott ist in ihm verherrlicht. Wenn Gott in ihm verherrlicht ist, wird auch Gott ihn in sich verherrlichen und er wird ihn bald verherrlichen. Meine Kinder, ich bin nur noch kurze Zeit bei euch. … Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.
Dieses Jesus-Wort ist äußerst kurz und klingt recht allgemein: „Liebt einander!“ Na, was denn sonst?, könnte man einwenden. Nur wenn wir die Umstände mitbedenken, unter denen er die Worte ausgesprochen hat, gewinnen sie ihr rechtes Profil: Sie sind sein Testament, seine letzte Verfügung. Es ist, wie wenn ein Familien-Vater seine Lieben noch ein letztes Mal um sich versammelt, bevor er weiß, dass er in Kürze stirbt. Deshalb sagt er auch „Kinder!“ Dass Jesus sein Hinscheiden so präzise voraus ahnt und es noch dazu als „Glorie“ darstellt, das ist schon bemerkenswert. Er sieht sich damit am „Siegespodest“ stehen, obwohl es eine schreckliche Ermordung wird: „Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht.“ Kurz davor spricht er seinen letzten Willen aus. Derjenige hat den Raum gerade verlassen, der sich diesem Willen nicht fügen will – Judas. Der scheint einen anderen Plan zu haben. Will er seinen Meister zur „Glorie“ führen, so wie er sich selber das vorstellt? Warum er Jesus ausliefert, bleibt wohl für immer ein Rätsel. Jedenfalls hat nun Jesus seine spirituelle Familie um sich geschart und er sagt zu ihr fast feierlich: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander!“
Da könnte man einwenden: Was ist an dem Gebot neu? Hat er nicht ständig die Nächstenliebe gepredigt? Außerdem: Kann man denn Liebe verordnen? Man könnte vermuten, das Wort „Gebot“ sei hier ungenau übersetzt. Sollte es nicht heißen: „Empfehlung“ oder „mein Wunsch“. Kann Liebe als Vorschrift ausgegeben werden, wie die 10 Gebote? Offenbar „Ja!“, denn Paulus verwendet dasselbe Wort „Gebot“ (= griechisch ENTOLE), wenn er von den bekannten Geboten spricht: „Denn die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren!, und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Röm 13,9)
Wenn Jesus gebietet: „Liebt einander!“, dann meint er keineswegs nur das Sympathie-Empfinden für einander. Das käme aus der Gefühlebene und ließe sich wohl nicht vorschreiben. Jesus meint einen Willensakt, nicht eine Emotion: Jesus meint es etwa so: „Wenn ihr einander liebt, dann erkundigt ihr euch nach dem anderen, ihr pflegt die Verbindung, ihr äußert eurer Interesse an ihm.
Bootsfahrt der Pilgergruppe am See: Das gemeinsame Boot als Sinnbild für Gemeinschaft.
Sich umeinander zu kümmern, dafür kann man sich bewusst entscheiden und es tun. Achte den anderen, auch wenn du mit seiner Auffassung nicht übereinstimmst. Lasse seine Eigenheit gelten. Versuche seinem Verhalten einen Sinn abzugewinnen. Du musst nicht alles billigen, was er tut und was er sagt, aber du sollst es gelten lassen. Lass die Vielfalt zu.“ Das zu tun, trägt Jesus auf wie eine Vorschrift. „Wenn du dem anderen Versäumnisse vorzuwerfen hast, macht dich nicht zu seinem Richter. Das heißt nicht, dass du seine Fehltritte stillschweigend übergehen sollst, oder dass du seine Beleidigungen hinunter schlucken sollst. Aber du sollst sie zur Sprache bringen und dann vergeben.“ Diese Grundhaltungen sind erforderlich im Zusammenleben mit all jenen, mit denen man oft zusammentrifft, mit denen man regelmäßig verbunden ist. „Greife zu, wo du die Not des anderen merkst. Biete deinen Hilfsdienst an, wenn du dazu imstande bist. Der andere soll sich nicht allein gelassen fühlen in seiner schweren Stunde.“ Diese Vorschriften sind keine Überforderung, auch kein bloßes fernes Idealbild. Sie sind zu befolgen und man sollte sie von Zeit zu Zeit wie eine Messlatte an seinen Lebensalltag anlegen, sich prüfen.
Der Meister ergänzt den Auftrag: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“ Dieses Gebot ist sehr wohl neu, denn bisher hat es nur die Aufforderung zur Nächstenliebe gegeben: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Es hat dafür kein Vorbild gegeben, kein sichtbares Modell, an dem man sich orientieren könnte. Seit dem Mitgehen mit Jesus gibt es das sehr wohl. Sein Schülerkreis hat drei Jahre lang erlebt, wie er sich um jeden von ihnen persönlich gekümmert hat, das obwohl er ihr Vorgesetzter war. Er war auch ihr Lehrer, aber nicht einer der Regeln vorgepredigt hat, sondern der sie modellhaft gelebt hat. Er hat jeden dort abgeholt, wo er in seiner Entwicklungsphase gestanden ist. Er hat die Familienverhältnisse jedes einzelnen kennengelernt und hat sich auch später weiter dafür interessiert. Er hat jeden in seiner Persönlichkeit gefördert, ihn liebevoll herausgefordert und ihm etwas zugetraut. Das hat Reifungsprozesse in Gang gesetzt, die nur die Kraft der Liebe hervorzurufen vermag. Sie waren dafür höchst dankbar und haben die Dankbarkeit am Schluss so ausgedrückt: „Wenn ich mit dir sterben müsste, ich lasse dich nicht im Stich.“ Dass sie nach seinem Aushauchen Jahrzehnte lang das weiter verbreitet haben, was sie mit ihm erlebt haben, würden sie wohl so begründet haben: „Das war ich seiner Liebe schuldig.“
Gut, das mag zutreffen für jene, die ihn noch persönlich gekannt haben in den Jahren zwischen 27 und 30 n.Chr. Diese Gunst haben wir Heutigen nicht mehr. Wer hat schon annähernd das erfahren: „… wie ich euch geliebt habe.“ Trotzdem ist die Frage entscheidend für alle, die sich engagieren im Sinne des Evangeliums: Habe ich SEINE Zuwendung erlebt, SEINE Herausforderung, SEINEN Zuspruch? Wann? Wurden meine Lebensweichen von ihm liebevoll begleitet? In welchen Fügungen? Haben die geistlich Beauftragten das erfahren – war es so reichlich, dass sie es seiner Liebe schuldig sind, es anderen weiter zu geben?
Woran sollten Christengemeinschaften erkennbar sein? Was sind die Bindekräfte, die ihren Zusammenhalt sichern? Ist es die Teilnahme am Gottesdienst? Oder die gewissenhafte Einhaltung der Gebote? Oder die unbedingte Loyalität gegenüber der Kirchenführung? Stellen wir Vergleiche an zu anderen Vereinigungen: In einem Fußballverein sind die Mitglieder verbunden durch die sportliche Betätigung, durch den Kampfgeist, durch das Streben nach Siegen. In Wirtschaftsunternehmen hält die Entlohnung die Mitarbeiter zusammen, je mehr Geld, desto mehr Verantwortung und Ehrgeiz, die Gewinne zu steigern. Eine politische Partei verfolgt ihr gesellschaftliches Engagement etwa, indem sie für den Umweltschutz eintritt oder sich den Patriotismus auf die Fahnen heftet.
Von daher können wir ernsthaft fragen: Was hält die Nachfolgegemeinschaften Jesu innerlich zusammen? Was ist ihre Motivation, ihre Antriebskraft? Die Antwort klingt so einfach, dass sie von manchen belächelt wird: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“ Die Spötter können sagen: „Ihr mit eurer großen Liebe, was könnt ihr denn schon bewirken in der Welt? Ist das alles, was ihr zu bieten habt?“ Entgegen solcher Verspottung ist das genau das Geheimnis: Der Fortbestand von Christenkreisen ist gesichert, wenn die Mitarbeiter in achtsamer Weise zusammenhalten. Das wird die Triebkraft für den Zukunftsweg sein: Dass sich die Mitarbeiter gegenseitig wertschätzen, in Not beistehen, verzeihen und sich in der persönlichen Entwicklung ermutigen. Das ist das „Gebot“ der Stunde.