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16. Aug 2020

20.Sonntag im Jahr.kr.

Mein Kind steht seelisch vor dem Abgrund

Matthäus 15,21-28

Diesmal geht es um eine Mutter mit einem psychisch schwer angeschlagenen Kind. Diese Mutter ist zu bewundern, mit welcher Hart-näckigkeit sie die Rettung der Tochter erfleht. Dass sie unnachgiebig war, lesen wir ab aus der seltsamen Art, wie Jesus sich ihr gegenüber verhält: Er geht zunächst nicht auf ihr Anliegen ein. Er verweigert seine Hilfe. So etwas sind wir von ihm wirklich nicht gewohnt. Sehen wir uns die Geschichte also genauer an. Zuvor aber sollten wir uns hineinfühlen in die Not dieser Frau. Wer davon noch nie betroffen war, hat keine Ahnung, was eine solche Mutter mitmacht: Verzweiflung, Ohnmacht, Finsternis, Schmerz, grässliche Abgründe. Wir wollen zuerst eine betroffene Mutter unserer Tage zu Wort kommen lassen. Dann studieren wir die Originalausgabe dieser Jesus-Begebenheit und schließlich schauen wir, was Matthäus in den 80er Jahren für seine Gemeinde daraus gemacht hat.

„Als Mutter mehrerer Kinder habe ich viele Hochs und Tiefs erlebt. Während der Erziehungszeit – die Kinder sind nun erwachsen – gab es viele Probleme und Herausforderungen zu lösen. Heute weiß ich, dass all das keine echten Probleme waren. Mein Sohn kämpft ums Überleben: Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat – und die Familie mit ihm. Tragische Umstände brachten ihn in ärgste psychische Not. Es ist ein Kampf gegen die Dunkelheit, gegen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. ---- Ständiges Suchen nach einer Möglichkeit, ihm zu helfen aus dieser Finsternis, dieser dunklen Nacht der Seele, die alles aufzufressen scheint. Kann ich etwas heraus-finden? Zeiten, in denen ich in die Urkraft des Lebens vertraue, wechseln mit Zeiten der Ohnmacht, der Wut, der Trauer. Es ist ein Leben im Ausnahmezustand. Es scheint mich selber auszuhöhlen. --- Katholisch erzogen, glaube ich an Gott, doch diese schwere Zeit hat mich zu einer persönlichen Beziehung zu Jesus geführt, das gibt mir Kraft und Zuversicht in all der Not. ---- Ich hoffe und wünsche mir auch für meinen Sohn, dass er zur wahren Quelle des Lebens findet, aber es ist mir bewusst, dass es ein Gnadengeschenk ist und nicht etwas, das man einfordern kann. - Eine Mutter.“

Die Original-Schilderung aus dem ältesten Evangelium knüpft unmittelbar an eine Diskussion mit den Hütern der Religionsregeln an.  Diese Leute stellten das Thema Reinheit an oberste Stelle, als würde es das Wichtigste sein. Das ständige Hin und Her  um die Reinheit war zwecklos. Jesus ging „von dort weg“, heißt es ausdrücklich. Er ging in die Gegend von Tyrus. Das war eine selbstbewusste Hafenstadt am Mittelmeer, nur einen Tagesmarsch (30 km) nördlich der Grenze mit Israel. Im Laufe der Jahrhunderte waren viele Machthaber daran gescheitert, diese Phönizier-Stadt einzunehmen. Erst 64 v.Chr. wurde sie in das römische Reich eingegliedert. Jesus  bezog im Umkreis der Stadt ein bestimmtes Quartier, nicht um dort seine gute Nachricht zu verkünden. Ganz im Gegenteil: Er wollte sich dort unerkannt aufhalten. Niemand sollte davon etwas erfahren. Offenbar ging es ihm diesmal um ein ganz privates Anliegen. Vielleicht wollte er für sich selbst etwas klären, was er nur in dieser Region erledigen konnte. Es war aber nicht möglich, dass er länger verborgen blieb.

Sehr rasch kam es einer bestimmten Frau zu Ohren, was über Jesus erzählt wurde. Scheinbar kam ihr genau dieser Mann Jesus wie gerufen, denn ihre Tochter hatte einen abscheulichen inneren Antrieb. (Wir ersetzen die Worte „unreiner Geist“ und „Dämon“ durch zeitgemäße Ausdrücke) Das Mädchen stand unter dem Zwang dunkler Kräfte. Mehr wird von der Tochter nicht gesagt, nicht ihr Alter, nicht ihr krankhaftes Verhalten, nicht die Ursache, wie sie zu dem Leiden gekommen war, nicht, wie lange sie schon daran litt.

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Die ausgegrabene griechisch-römische Stadt Hippos throhnt hoch über dem See Genezareth auf der Ostseite. Sie gehörte damals zum 10-Städte-Verband Dekapolis. Jesus hat keine dieser mit Rom verbundenen Städte betreten. Er hielt es nicht für seinen Auftrag, in den "Städten der Völker" aufzutreten. 

Die Frau hatte nichts eiliger zu tun, als zu kommen und sich Jesus zu Füßen zu werfen. Das wird so  geschildert, als würde man sie da vor ihm liegen sehen – zunächst wortlos, wie ein Festklammern am letzten Rettungsanker. Es ist, als könnte man sie betrachten, wie sie da liegt:  Ihre Kleidung, ihr vielleicht offenes Haar verrieten sofort, dass sie keine Jüdin war. Der Bibeltext sagt es uns auch gleich: Sie war der Sprache und dem Kulturkreis nach griechisch, was für den Großteil des römischen Reiches zutraf. Von ihrer Abstammung her war sie Phönizierin und zwar syrische Phönizierin im Unterschied zu Phöniziern in Libyen. Über 800 Jahre zuvor hatte nämlich die Phönizier­stadt Tyrus eine Kolonie in Nordafrika gegründet. Diese Frau nun fragte ihn, ob er die unheimlichen Kräfte aus ihrer Tochter vertreiben würde.

Jesus aber konnte ihr den Wunsch leider  nicht erfüllen, weil er das nicht als seinen Sendungsauftrag erachtete. Er musste ihr eine Ablehnung erteilen, aber er formulierte das humorvoll und verschlüsselt. Er  sagte: „Lasst zuerst die Kinder satt werden. Es ist nämlich nicht schön, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hündchen hinzuwerfen.“ Dieses rätselhafte Wort bedarf einer Aufklärung: Die Mitglieder des Gottesvolkes galten als die  „Kinder“ – so der jüdische Sprachgebrauch. Die übrigen Völker hingegen wurden abwertend als „Hunde“ bezeichnet. Jesus griff diese abschätzige, aber weit verbreitete Redeweise auf, mäßigte sie aber. Vielleicht sagte er das Wort sogar mit Schmunzeln: „… Hündchen“

Sie schien eine selbstbewusste und gebildete Frau zu sein, denn sie ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Sie stimmte ihm mit einem „Ja!“ zu. Dann redete sie ihn mit „Herr“ an. Sie anerkannte ihn als Gebieter, dem man nicht widersprechen durfte, der aber über Macht verfügte. Bei aller Anerkennung hatte sie einen Einwand: „Die Hundeschar unter dem Tisch isst aber die kleinen Reststücke der Kinder auf.“ Sie ging somit gekonnt auf seine humorvolle Ablehnung ein und brachte ihrerseits eine Tatsache vor: „Die Kinder essen gar nicht alles, was ihnen der Herr auftischt. Sie wollen sich gar nähren von seinem Wort. Sie gehen teilweise achtlos damit um.“ Sie schien zu wissen, auf wieviel Ablehnung Jesus in seinem eigenen Volk stieß. Sein Wort wurde nicht von allen "Kindern" angenommen.

Daraufhin gab Jesus seinen Widerstand auf und sagte zu ihr: „Ich bin beeindruckt von deinem Wort. Diese Äußerung verrät mir dein außergewöhnlich starkes Vertrauen. Deswegen kannst du getrost weggehen. Die zwanghaften Kräfte sind aus deiner Tochter bereits hinaus gegangen.“ Vordergründig hat Jesus hier eine Fernheilung durchgeführt. Der volle Grund für seinen Heilerfolg lang an der Mutter, an ihrem hartnäckigen Vertrauen. „… wegen deines Wortes“

Sie ging weg von da und begab sich sofort nach Hause. Dort fand sie das Kind hingeworfen auf die Couch. Die zwanghaften Kräfte waren hinaus gegangen. Der Originaltext sagt nicht „auf dem Bett liegen“, sondern „hingeworfen“. Das sieht nach einem wütenden Endkampf aus und danach einem völlig erschöpften Daliegen.

Wir können nachfragen, wieso uns das Evangelium von diesem heftigen Ausgang berichten kann, wenn doch Jesus selbst nicht an Ort und Stelle war. Vielleicht ist die Mutter dankbar zurück gekehrt und hat es im Detail geschildert. Jedenfalls scheint sie aus wohlhabendem Milieu zu stammen, denn die Durchschnittsbevölkerung schlief auf einfachen Liegen. Hier ist ausdrücklich von einem Bett, von einer Couch die Rede wie sie in römischen Villen Standard waren. Dieses kostbare Möbelstück war vielleicht beschädigt durch den letzten Tobsuchtsanfall der Tochter, wertvolle Bettwäsche war vielleicht in Fetzen zerrissen, aber ein junger Mensch war gerettet. Anfangs war immer von einer Tochter die Rede gewesen. Jetzt erfahren wir, dass es ein Kind war. Dass jemand in diesem jungen Alter schon unter solch selbstzerstörerischen Zwängen stehen konnte, macht nachdenklich - noch dazu in einer reichen Familie.

 

Der Evangelist Matthäus gestaltet diese ihm vorliegende Schilderung so um, dass wir annehmen können, er verschränkt das Wirken Jesu zu Lebzeiten mit Vorgängen in der Christus-Gemeinde der 80er Jahre. Die frühen Christengruppen hatten nachweislich hohe psychotherapeutische Heilerfolge. Es war gang und gebe, dass Hauskreise einzelnen Mitgliedern heraus halfen aus schweren  seelischen Nöten – genau genommen stammte die Kraft vom „Herrn“, der die Kreise ermächtigt hatte zu dem Wirken. Noch zu Lebzeiten hatte ja Jesus vorrangig diesen Auftrag erteilt: „Befreit sie von ihren Zwängen. – Helft ihnen, über ihre belastende Vergangenheit hinweg zu kommen – Erlasst ihnen die Schuld.“ Jede einzelne Gemeinde, jeder Hauskreis war dazu befugt von IHM her. So konnten Mitglieder und sogar deren Angehörige aus der schlimmsten Not gerettet werden. Wohlgemerkt, das galt für Mitglieder – nicht für Fernstehende. Nun scheint Matthäus auch Fälle zu kennen, dass  an die Hauskreise auch Außenstehende, also Nicht-Mitglieder herantraten, deren Kinder vor dem seelischen Abgrund standen. Wenn dann ein Mitglied das Anliegen in den Gebetsabend einbrachte, gab es nur Schweigen: „Jesus erwiderte mit keinem Wort.“ Die betroffene Person ließ aber nicht locker, und verlangte hartnäckig nach geistiger Nahrung, nach dem rettenden Zuspruch aus der Gemeinde. Da traten die Jesus-Anhänger in den Hauskreisen vor den Herrn und beteten: „Halte uns diese psychisch belastete Person vom Leib, denn sie schreit hinter uns her. Sie lässt uns keine Ruhe. Wir sind doch nur zuständig für die Sorgenkinder innerhalb der Gemeinde. Wir haben genug zu tun mit den eigenen Schäfchen.“  Die Gemeinde soll sich hüten vor so einem Danken. Sie wird erleben, dass der Herr hilft, wenn auch nicht sofort. Manchmal ist hartnäckiges, ausdauerndes Bitten unerlässlich.

Wir können nun fragen: Wann sprießen in unserer Zeit wieder die Hauskreise aus dem Boden, wie es sie damals gegeben hat? Die psychische Not wird merklich größer in unserer Gesellschaft des Wohlstandes, Selbstmordgefährdung nimmt zu, Mangel an geistlicher Nahrung ist deutlich sichtbar, Den spirituellen Runden wird es mehr und mehr gelingen, rettende Kraft zu schöpfen, indem sie sich die  Schilderungen des Wirkens Jesu  genau vor Augen führen. Sie werden die Sorgenkinder zum gemeinsamen Gebetsanliegen machen und über längere Zeitspanne dran bleiben, gerade wenn Jesus lange Zeit keine Antwort zu geben scheint. Sie werden sich im Namen von Betroffenen ihm zu Füßen werfen und werden den Erfolg sehen. Sie werden die Wirkung des Geistes Jesu auch nach 2000 Jahren  hautnah erleben.

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