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16.Okt. 2022      29.Sonntag im Jahreskreis

Hartnäckig Gottes Hilfe einfordern  

Jesus sagte ihnen durch ein Gleichnis, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten: In einer Stadt lebte ein Richter, der Gott nicht fürchtete und auf keinen Menschen Rücksicht nahm. In der gleichen Stadt lebte auch eine Witwe, die immer wieder zu ihm kam und sagte: Verschaff mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange Zeit nicht. Dann aber sagte er sich: Ich fürchte zwar Gott nicht und nehme auch auf keinen Menschen Rücksicht; weil mich diese Witwe aber nicht in Ruhe lässt, will ich ihr Recht verschaffen. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht. Der Herr aber sprach: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern bei ihnen zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen. Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden?

Das Lesejahr C, das auf dem Lukas-Evangelium gründet, neigt sich bald dem Ende zu. Es ziemt sich, diesem hervorragenden Schriftsteller eine Würdigung auszusprechen. Er steht uns deshalb nahe, weil er als einziger der vier Evangelisten nicht aus der jüdischen, sondern aus der römisch-griechischen Kultur stammt. Sie ist unserer westlichen Welt ähnlich, wo Konsum, Besitz und Unterhaltung hoch im Kurs stehen. Mehrmals in seinem Evangelium überliefert er uns kühne Lehrreden Jesu, wie etwa an diesem heutigen Sonntag. Die Bibelwissenschaft nennt dies lukanisches Sondergut. Da ist es eine wahre Freude, Jesus im Originalton zu hören. Zu unüblich ist oft der Ausgang der Geschichte. Das erfindet nicht so leicht irgendein Schriftsteller, auch nicht Lukas. Solche Worte können nur aus dem Mund Jesu stammen. Lukas wird aber auch nicht bestreiten können, dass er häufig zu den Jesus-Reden seine eigene Rahmung dazu gestaltet. Sie stammt aus seiner Feder. Was Lukas da oft ergänzt, ist aus den  Umständen  seiner Zeit verständlich – also 60 Jahre nach Jesus. Um es richtig zu verstehen, erfordert es einiges an Hintergrund-Wissen aus dem Gemeindeleben von damals. Das versucht diese Auslegung zu vermitteln.

Diesmal sind es wieder kühne Worte. Die Kern-Aussage geht auf Jesus selbst zurück. Die Rahmung stammt von Lukas. Der will uns einleitend gleich sagen, dass das folgende Gleichnis uns klar machen will, wie notwendig es ist, allezeit zu beten. Mit „allezeit“ ist nicht „ununterbrochen“ gemeint, sondern, dass wir jede sich bietende Gelegenheit nützen müssen, um uns in der Gegenwart Gottes zu realisieren und um uns dem gütigen Gott verbal zuzuwenden. Wenn sich die Gelegenheit nicht von sich aus bietet, müssen wir uns die Zeit bewusst nehmen. Es heißt nicht wir „sollen“, sondern wir „müssen“. Es ist nicht ein äußerlicher Druck, mit dem wir gedrängt werden zum regelmäßigen Beten. Es wird uns nicht ein schlechtes Gewissen gemacht, wenn wir nachlässig sind.

Es liegt auch kein Zwang auf uns, dass wir beten, sondern es besteht die innere Notwendigkeit. Es ist unerlässlich. Wir brauchen das zum geistlichen Überleben. Leider sind wir oft in Gefahr, das zu vernachlässigen. Deshalb lautet die zweite Aufforderung: Nicht „müde werden“ darin, nicht erlahmen. Wir dürfen auch nicht beten aus Route; es wäre ein Kennzeichen von Ermüdung und Langeweile. Das Beten soll aus Frische und Kraft heraus geschehen. Wofür ist es notwendig? Was soll erreicht werden durch die Hinwendung zu Gott?  Das verrät die folgende Geschichte:

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Foto: Obsthändler in der Altstadt von Jerusalem

Werden die Früchte der Erde gerecht verteilt? Wann wird es Gerechtigkeit geben? Wer wird den Schwächeren zu ihrem Recht verhelfen?

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In irgendeiner Stadt, deren Namen hier ungenannt bleibt, gab es einen bestimmten Richter. Er ist durch seinen Beruf ein Rechtsfachmann und er vertritt die staatliche Rechtsordnung des Landes. Es war also ein Rechtsstaat, wo sich jeder Bürger auf das Gesetz berufen und es in Anspruch nehmen konnte. Dieser erwähnte Richter war wohl ein Mann mit Durchsetzungsvermögen. Vom Glauben und von Religion hielt er nichts. Was andere als „Gott“ bezeichneten, davor hatte er keinerlei Achtung. Darüber redete er geringschätzig. Auch die Sorgen der Menschen kümmerten ihn nicht. Was die Leute beschäftigte und plagte, das nahm er nicht ernst. Nicht einmal, was sie über ihn redeten, berührte ihn. Wenn ein Bürger seinen eigensinnigen Charakter öffentlich beanstandete, wusste er sich leicht zu verteidigen: Es war für ihn ein Leichtes, sich Leute zu bezahlen, die diesen angreifenden Bürger schnell in Verruf brachten.

In derselben Stadt gab es eine vornehme Frau, die ihren Mann verloren hatte. Als Witwe stand sie als Schutzlose da. So kam sie mit einem Anliegen zum Richter und erwartete sich Rechtshilfe und Schutz von ihm. Sie war sicher keine Verarmte, denn aus der Unterschicht hätte es keine Frau gewagt, einen Richter in Anspruch zu nehmen. Eine Arme hätte sich einen Anwalt nicht leisten können. Sie hingegen war eine selbstbewusste Frau und sie war überzeugt, dass sie im Recht war. So sagte sie zu ihm kurz und bündig: „Verschaff mir Recht gegenüber meinem Widersacher.“ Das erwartete sie sich vom Richter: Er sollte dafür sorgen, dass sie zu ihrem Recht kam. Das griechische Wort heißt: „heraus-rechten“, das heißt, sie wollte heraus kommen aus einer bedrängten Lage durch den Rechtsbeistand. Wer das war, der sie in Bedrängnis brachte, wer dieser Gegenspieler war, erfahren wir nicht in der Geschichte und brauchen wir auch nicht zu wissen, denn es geht um sie – um das Schicksal der Witwe. Es lässt sich leicht erahnen, worum sie betrogen wurde: wahrscheinlich um ihr Erbe – um das, was ihr nach dem Tod ihres Mannes zustand.

Der Richter jedoch machte keine Anstalten, sich um die Sache anzunehmen. Er wollte einfach nicht. Warum er nicht wollte, dafür mag es viele Gründe geben: Gleichgültigkeit? Überarbeitung? Zuwenig Honorar? Ungünstiger Zeitpunkt? Wir erfahren den Grund nicht. Das Nichtwollen zog sich in die Länge. Die Zeit verging, aber sie blieb nicht untätig. Sie ließ nicht locker. Sie wurde nicht müde mit ihrem Auftreten vor dem Richter. Die selbstbewusste Witwe wurde dabei von Mal zu Mal lauter. Sie machte ihm Vorwürfe: „Du vernachlässigt deine Pflicht!“ Aber das beeindruckte ihn nicht im Geringsten. Er war stolz auf seine Unerschrockenheit und sagte wieder vor sich hin: „Vor dem Allmächtigen, wie ihn viele nennen, vor dem fürchtete ich mich nicht. Und die Menschen – denen wende ich den Rücken zu. Was immer die reden über mich, dafür schäme ich mich nicht. – Aber diese eine Frau, diese Witwe bereitet mir Ärger. Ich habe keine Ruhe von ihr. Es bleibt mir nichts anderes übrig: Ich werde nun doch dafür sorgen, dass sie zu ihrem Recht kommt. Ich bin entschlossen, ihr zum Recht zu verhelfen. Es könnte für mich sonst ein schlimmes Ende nehmen. Diese Dame ist in der Lage, mir einen Schlag unter das Auge zu verpassen. Es wäre nicht auszudenken, wie ich dastünde mit einem blauen Auge. Meine Freunde und Nachbarn würden mich dann fragen: Von wem hast du das? Was, von einer Frau? Von einer Witwe noch dazu? – Nicht auszudenken!“

Damit beendete Jesus seine Lehrgeschichte. Gut vorstellbar, dass er schmunzelnd in der Runde herum blickte. Er schilderte nicht mehr weiter, ob das Rechtsverfahren tatsächlich zu ihren Gunsten ausgegangen ist. Zweifellos war es das, denn sie war ja im Recht und der Richter hatte schon für sich beschlossen, ihr zum Recht zu verhelfen. Schließlich ergänzte Jesus noch: „Hab ihr bemerkt, worauf der Richter angesprungen ist, der Mann, der sich nicht um das Recht kümmert? Was war es letztlich, das ihn zum Tätigwerden veranlasst hat, obwohl er sich nicht für eine gerechte Welt einsetzte?“ Jesus gab die Antwort nicht. Er ließ seine Hörer selber drauf kommen Aber die Antwort war eindeutig: Die Ehre war dem Richter heilig, die durfte nicht angepatzt werden. Bei den Großen, von sich Eingenommenen erreicht man am ehesten etwas, wenn man sie bei der Ehre packt. Das nützte die Frau aus.

Zum Schluss ist noch ein Lehrgrundsatz angefügt, der zwar nicht in der Geschichte vorkommt, aber sich aus ihr ableiten lässt: „Wird Gott nicht für Vergeltung sorgen gerade bei seinen Auserwählten? Wird er nicht für sie eine Lage des Rechts schaffen, wenn sie tagsüber und während der Nacht zu ihm schreien?  Nicht sanft und ruhig bitten sie Gott, sondern sie schreien, es ist fast ein Verzweiflungsschrei. Er wird gerade bei ihnen nicht zögerlich sein und wird es nicht in die Länge ziehen. Ich sage euch: Er wird ihnen in Kürze Recht verschaffen.“ Ob dieser Lehrsatz noch aus dem Mund Jesu stammt, ist umstritten. Dafür klingt er zu wenig klar. Er könnte aus der Erfahrung der Gemeinden der 90er Jahre stammen. Damals hat sich die große Mutter-Religion, das Judentum öffentlich losgesagt von den Hauskreisen. Wer sich als Jude zu Jesus als dem Messias bekannte, war ausgeschlossen aus der Synagoge. Damit verlor das junge Christentum die Rechtsansprüche vor dem römischen Staat. Es konnte nicht mehr die Sonderrechte in Anspruch nehmen, die das Judentum vor der Macht Roms besaß. Das führte dazu, dass die Jesus-Hauskreise vor dem Staat nur als Vereine galten, nicht aber als rechtlich anerkannte Religion wie das Judentum.

Sicher aus der Feder des Lukas stammt der allerletzte Satz: „Wird der Menschensohn etwa, wenn er kommt, die Glaubenstreue auf der Erde vorfinden?“ Lukas in den 90er Jahren stellt mit Besorgnis „Glaubensschwund“ oder Wankelmütigkeit fest. Bezieht er das nachlassende Vertrauen auf die Welt oder auf Kirchen-Gemeinschaften? Auftreten wird der Menschensohn ja vor der ganzen Menschheit, vor allen Völkern, und nicht nur in den Glaubensrunden. Auch in denen ist die glühende Erwartung, dass der Menschensohn in Herrlichkeit kommt, schon blass geworden. Paulus in den 50er Jahren war noch überzeugt, es sei nur noch eine Frage der Zeit, dass der Menschensohn im Strahlenglanz erscheinen würde. Diese „Naherwartung“ ist geschwunden in der Zeit des Lukas. Für ihn bleibt trotzdem der Apell, zum Herrn zu schreien – am hellen Tag aus Freude und in der dunklen Nacht um Rettung. Das hat Lukas schon im Einleitungssatz zu der Geschichte betont: „Immerfort beten! Nicht müde werden!“ Jesus selbst hatte die Betonung auf die Zudringlichkeit und Hartnäckigkeit gelegt.

Uns Heutige fordert Lukas heraus: Kommen wir in den Gottesdiensten zusammen, um einen gewohnten langatmigen Ritus zu vollziehen oder „schreien“ wir zu Gott, weil wir in Bedrängnis sind? Rechnen wir mit seinen Beistand? Lassen wir vorformulierte Gebete von einem Lektor vorlesen oder bringen wir die Not einzelner Mitglieder von uns immer neu vor Gott und werden wir nicht müde, sie vorzubringen? Beschränken wir unser Beten auf die eine Stunde im Kirchengebäude oder beten wir darüber hinaus bei vielen, vielen Gelegenheiten? Wie hartnäckig sind wir dabei? Bringen wir persönliche Anliegen jeder für sich still vor Gott oder suchen wir uns Gebets-Unterstützer und sprechen den Wunsch laut aus? Lukas möchte beitragen, dass wir unsere Gebetsgewohnheiten überdenken und mehr aus unserer Betroffenheit heraus sprechen.

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